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Full text of "Camille Corot, mit 76 abbildungen"

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JULIUS  MEIER^GRAEFE 

CAMILLE  COROT 


MIT  76  ABBILDUNGEN 


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MÜNCHEN/R.PIPER&CO./VERLAG 


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with  care. 

The  University  of  Connecticut 
Libraries,  Storrs 

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JULIUS  MEIER.GRAEFE 

CAMILLE   COROT 


Jean  Baptiste  Camille  Corot. 
Nach  einer  Photographie  im  Besitze  des  Herrn  J.  S.  Hill. 


JULIUS  MEIER^GRAEFE 


CAMILLE  COROT 


MIT  76  ABBILDUNGEN 


DRITTE  AUFLAGE 


MÜNCHEN  1913 
R.  PIPER  S.  CO.,  VERLAG 


Früher  erschienen: 

VINCENT  VAN  GOGH.  Mit50  Abbildungen  und  dem 
Faksimile  eines  Briefes.    4.-6.  Tausend.    M.  3. — 

PAULCEZANNF:.  Mit54  Abbildungen.  4.-6. Tausend. 
M.  3.— 

AUGUST  RENOIR.    Mit  100  Abbildungen.    M.  S.- 
EDUARD MANET.  Mit  197  Abbildungen.     M.  6.- 

In  Vorbereitung: 

EDGAR  DEGAS 
EUGEN  DELACROIX 
PAUL  GAUGUIN 
JOHN  CONSTABLE 
JAMES  M.  N.  WHISTLER 


Inhaltsverzeichnis 


Seite 

Mensch  und  Künstler 7 

Die  Lehre 16 

Die  Frauen  Corots 36 

Der  Romantiker 54 

Der  Landschafter 66 

Die  beste  Zeit 96 

Vermeer  —  Chardin  —  Corot 157 

Corots  Stellung  in  der  Gegenwart 183 


Blick  auf  das  Colosseum  in  Rom.     1826. 

0,28x0,48.     (Moreau.Nelaton  66.) 

Paris,  Louvre. 

Photo  Hanfstaengl,  München. 


Mensch  und  Künstler 


Seine  Mutter,  von  ihm  „La  belle  dame"  genannt,  war  eine 
der  gesuchtesten  Modistinnen  im  ersten  und  zweiten  Kaiserreich 
und  stammte  aus  der  Schweiz.  Sein  Vater,  Sohn  eines  Perücken^ 
machers,  hielt  die  Kasse.  Der  Laden  lag  am  Anfang  der  Rue 
du  bac,  gleich  an  der  Seine  —  vor  hundert  Jahren  war  das  gute 
Gegend  —  nicht  sehr  groß  aber  fein,  soigniert.  Wer  etwas  auf 
sich  hielt,  ließ  dort  arbeiten.  Es  gibt  von  Gavarni  eine  reizende 
Gravüre  aus  dem  Jahre  1830  ,,modes  de  Mme.  Corot'*:  Ein 
Pärchen  in  der  heute  wieder  entdeckten,  intimen  Eleganz  der 
Zeit.  Sie  im  süßesten  Kapottehütchen  mit  großen  Bindebändern, 
in  dem  großen  geradlinigen  Sessel  englischer  Herkunft;  der  Geck 
steht  in  langem  Glockenrock  daneben. 

Die  Mutter  liebte  den  Jungen  zärtlich.  Der  Vater,  echter, 
nüchterner  Bourgeois  mit  anständigem  Embonpoint,  tadellos  reell, 
betrachtete  ihn  mit  Erstaunen,  wunderte  sich  noch,  als  man  von 


dem  fünfzigjährigen  Sohne  ein  Bild  kaufen  woUte,  und  konnte, 
als  die  Ehrenlegion  eintraf,  nicht  fassen,  daß  die  Auszeichnung 
nicht  für  ihn  selbst,  sondern  für  den  Maler  bestimmt  war.  Man 
machte  dem  Jungen  keine  allzugroßen  Schwierigkeiten,  den  merk^ 
würdigen  Beruf  eines  Malers  zu  ergreifen,  hänselte  ihn  allenfalls. 
Der  Alte  schrieb  das  Geld  gut,  das  für  die  Etablierung  eines 
Geschäftes  für  den  Sohn  zurückgelegt  war,  und  zahlte  ihm  eine 
anständige  Rente.  Dumme  Streiche  fürchtete  man  nicht.  Camille 
war  ein  gutes  Kind.  Der  Rest  kam  bei  dem  Gang  der  Geschäfte 
nicht  in  Frage. 

Konnte  aus  solchem  Milieu,  in  dem  das  gemütlichste  Be^ 
hagen  herrschte  und  nur  die  zärtlichsten  Dinge  verhandelt  wur^: 
den,  wo  jede  Gebärde  etwas  geschmackvoll  Frauenhaftes  erhielt, 
ein  revolutionärer  Künstler  hervorgehen?  Nicht  weniger  als 
alles  sprach  dagegen.  Zwar  war  er  körperlich  unglaublich  robust 
und  verfügte  wie  Courbet  über  ungewöhnliche  Kräfte.  Der 
Siebzigjährige,  der  noch  mit  der  Sonne  auszog,  der  Nässe  und 
der  Kälte  trotzte,  wie  ein  Bauer  gekleidet  ging  und  wie  ein 
Handwerksbursche  durch  die  Welt  zog,  schien  eher  der  Sohn 
eines  Landmannes.  Nur  das  Gesicht  verriet  das  Sanfte  seines 
ganzen  Wesens.  Es  sah  fast  wie  das  eines  Landpastors  aus, 
eines  von  der  allerbesten  Sorte,  dem  die  Frömmigkeit  aus  der 
Natur  kommt,  der,  gewohnt,  mit  einfachen  Menschen  umzu^ 
gehen,  das  salbungsvolle  Wort  zur  herzlichen  Gebärde  umformt. 

Alles  andere,  nur  kein  Revolutionär.  Er  war  noch  im 
18.  Jahrhundert  geboren,  um  ein  Jahr  älter  als  Delacroix,  aber 
hatte  gar  nichts  von  der  wilden  Zeit.  In  dem  robusten  Körper 
saß  eine  mädchenhafte  Seele.  Seine  Briefe  an  die  Eltern  und 
Freunde  klingen  wie  Pensionatsergüsse.  Er  war  fromm,  ging 
zur  Messe  und  genierte  sich  nicht,  im  Kreise  der  Bohemiens 
vom  lieben  Gott  zu  sprechen.  Aber  zu  alledem  muß  man  seine 
Eigenheit  hinzurechnen,  das  Corothafte,  das  all  seinem  Gebaren 
etwas  Besonderes  gab.  So  war  seine  Seele  wohl  mädchenhaft, 
aber  hielt  —  nicht  mit  großen  Worten,  sondern  im  stillen  um 
so  energischer  —  an  seinem  Willen  fest.  So  war  er  sanft,  aber 
dieses  Sanfte  kam  nicht  von  einer  Beschränktheit  der  Person^ 
lichkeit,  sondern  von  übergroßem  Reichtum  her,  der  sich  so  auf 
bequemste  Weise  des  Überschusses  entäußerte. 


Kein  Mensch  war  glücklicher.  Seine  geringen  Ansprüche 
konnte  er  mehr  als  in  ausreichendem  Maße  befriedigen.  Freunde 
besaß  er  mehr  als  große  Fürsten,  Feinde  hat  er  kaum  gehabt. 
Warum  sollte  er  nicht  fromm  sein?  Denn  seine  Frömmigkeit 
hielt  sich  nicht  an  enge  Formeln.  Sie  steckt  in  dem  Ausspruch, 
den  er  einmal  über  das  Jenseits  tat:  „Na,  ich  hoffe,  man  malt 
wenigstens  da  oben!"  Sie  vermischte,  wie  oft  in  Frankreich, 
das  von  Gott  Gewollte  mit  dem  Schönen,  die  Engel  mit  den 
Nymphen,  den  Himmel  mit  dem  Olymp.  Er  war,  obschon  ein 
guter  Christ,  kein  schlechter  Grieche  aus  heidnischen  Zeiten. 
Einen  Dichter  nannte  ihn  Theophile  Gautier,  aber  das  ist  bei* 
nahe  zu  richtig.  Dieser  Dichter  war  ein  echter  Bourgeois.  Als 
ihn  einmal  in  reiferen  Jahren  ein  Freund  das  Angeln  lehrte, 
vergaß  Corot  über  diesem,  dem  echten  Pariser  Spießer  unents^ 
behrlichen  Sport  14  Tage  das  Malen.  Seine  Leidenschaft  waren 
Familienfeste.  Er  fehlte  bei  keiner  Taufe,  bei  keiner  Trauung; 
stand  in  der  Politik  bei  den  äußersten  Konservativen,  ließ  sich 
von  Courbet  gewaltig  imponieren,  bekehrte  sich  zu  Delacroix 
erst  im  Alter  und  konnte  Manet  nicht  ausstehen.  Sicher  war 
der  Künstler  in  ihm  größer  als  der  Mensch;  so  scheint  es  we* 
nigstens,  weil  wir  den  Großen  nicht  gern  Gutmütigkeit  zutrauen. 
Und  doch  gehörte  der  Pere  Corot  und  das,  was  er  machte,  so 
zusammen  wie  Leib  und  Seele.  Es  klingt  verdächtig  seicht, 
wenn  er  sich  bei  dem  Landschafter  Dutilleux  anmeldet,  um,  wie 
er  sagt,  mit  ihm,  das  heißt  mit  dem  nicht  übermäßig  begabten 
Freunde,  „ordentliche  Chefs^d'oeuvre"  zu  machen,  wenn  er  „seine 
Flöten  putzt",  „um  für  die  kleinen  Vögelchen  im  Walde  zu 
arbeiten".  Wer  glaubt  heute  noch  dergleichen?  Gibt  es  noch 
Kinder  in  der  Welt?     Darf  es  sie  geben? 

Ein  Kind  war  er,  das  trifft  wohl  am  besten  seine  Art.  Ein 
Kind,  das  eines  Morgens  seine  alte  Adele,  die  Wirtschafterin 
des  Junggesellen,  nicht  anzusehen  wagte,  weil  er  ihr  des  Abends 
vorher  ein  nicht  ganz  sanftes  Wort  gesagt;  der  dem  Freunde, 
dessen  unverschämten  Pumpversuchen  er  einmal  siegreich  wider* 
standen  hatte,  nachlief,  um  ihm  die  Tausendfrankscheine  zu 
bringen;  der  kein  Geschenk  machte,  ohne  dem  ungebetenen 
Gaste  zu  empfehlen,  recht  bald  wiederzukommen.  Den  zweitel* 
haften  Händlern,  die  ihm  falsche  Bilder  brachten,  malte  er  echte 


auf  die  alten,  —  Roger  Miles  erzählt  ein  paar  hübsche  Anek:* 
doten  darüber^)  —  und  noch  auf  seinem  Sterbebette  signierte 
er  Tedesco  ein  vergessenes  Gemälde.  Er  war  viel  gutmütiger, 
als  Kinder  zu  sein  pflegen,  aber  hatte  den  Optimismus,  der 
ihnen  eigen  ist.  Seine  Biographie,  die  Moreau:=Nelaton  mit 
größtem  Fleiße  zusammengestellt  hat,  liest  sich  wie  die  Lebens^* 
geschichte  eines  Kindes,  das  80  Jahre  wurde  ^). 

Er  arbeitete  im  Spielen,  mit  einer  Phantasie,  wie  sie  nur 
dem  Knabenalter  eigen  zu  sein  pflegt.  Der  Katalog  Robauts 
zählt  2500  Werke.  Noch  in  seinen  letzten  Lebensjahren  malte 
er  an  mehreren  Bildern  zugleich  und  brachte  manchmal  in  einer 
Woche  ein  halbes  Dutzend  fertig.  Kindlich  ist  die  ganze  Art 
seiner  Kunst.  Ich  habe  bei  jeder  seiner  Zeichnungen  den  Ein^ 
druck,  einen  ganz  jungen  Menschen  vor  mir  zu  sehen,  der  mit 
der  Naivität  des  Anfängers  gestaltet.  Bis  zum  18.  Jahre  war  er 
in  Rouen  auf  der  Schule,  dann  8  Jahre  Kommis,  dann  kurz  bei 
dem  gleichaltrigen,  frühreifen  Klassizisten  Michallon,  und  als 
dieser,  in  gewissen  kleinen  Landschaften  viel  versprechende 
Künstler  schon  1822  starb  ^),  trat  Corot  bei  Victor  Bertin  ein, 
dem  Akademiker  par  excellence.  Aber  er  hat  eigentlich  nie 
eine  rechte  Schule  gehabt.  Darin  verbirgt  sich  das  Neuzeitliche 
seiner  Art,  der  Unterschied  mit  der  alten  Kunst,  mit  Ingres. 
Dieser  war  das  Höchste  von  Schule,  Corot  das  Höchste  von 
Autodidakt.  ,,Confiance  et  conscience"  war  seine  Parole,  zwei 
Worte,  die  für  ihn  im  Grunde  dasselbe  bedeuteten,  denn  er 
bezog  die  conscience  nur  auf  den  eigenen  Maßstab,  die  eigene 
Empfindung,  wie  sie  durch  die  Natur  gelöst  wird.  Nichts  an^ 
deres  ließ  er  gelten.  An  nichts  anderes  denken,  auch  nicht  an 
die  alten  Meister.  Kind  sein,  die  Augen  aufmachen,  träumen, 
et  voilä.     Ingres  brachte   es   fertig,   höchste  Kultur  so   intensiv, 


^)  Album  classique  des  Chefssd'ceuvre  de  Corot  (Braun  6^  Cie., 
Paris  1895). 

^)  L'cEuvre  de  Corot  par  Alfred  Robaut,  catalogue  raisonne  et  illustre, 
precede  de  l'histoire  de  Corot  et  de  ses  ceuvres  par  Etienne  Moreau^Nelaton 
(H.  Floury,  Paris  1905). 

^)  Vgl.  über  diesen  ersten  Lehrer  und  Freund  Corots,  der  nicht  ohne 
Einfluß  günstigster  Art  auf  ihn  gewesen  sein  muß,  die  kurzen  Angaben  bei 
Andre  Michel,  »Notes  sur  l'Art  Moderne«  (Colin  a  Co.,  Paris  1896),  S.  9  u.  ff. 

10 


fast  könnte  man  sagen,  physisch  in  sich  aufzunehmen,  daß  seine 
Formel  beinahe  wie  Natur  erscheint.  Fast,  denn  ein  Rest  bleibt 
bei  ihm  immer.  Man  vergißt  nie,  selbst  nicht  bei  dem  Bain 
turc,  daß  man  eine  Malerei  vor  sich  hat,  eine  Konstruktion,  und 
kann  vor  der  glänzendsten  Odaliskenzeichnung  nicht  ganz  das 
Dekorative  verwinden.  Corot  ist  nur  Mensch,  aber  ein  so  selten 
reines  Exemplar  von  so  göttlichem  Instinkt,  daß  ihm  die  liebs* 
lichste  Form  zugleich  die  natürlichste  wird.  Darin  liegt  sein 
großer  Reiz  und  auch  seine  schlechterdings  alleinstehende  Be^ 
deutung.  Die  Kunst  des  Parti^pris  der  Stilisten,  selbst  eines 
Ingres,  hat  alle  möglichen  Schönheiten,  aber  verbirgt  das  Ele^ 
mentare.  Sie  wirkt  durch  die  Überlieferung.  Der  Künstler 
identifiziert  sich  nicht  vollkommen  mit  ihr.  Der  Beschauer  dringt 
erst  nach  Überwindung  dieser  Überlieferung  zur  eigentlichen 
Form  des  Künstlers,  zum  Menschlichen,  und  der  Umweg  macht 
ihn  zuweilen  müde.  Nichts  dergleichen  hemmt  uns  bei  Corot. 
Wir  glauben  seinen  Dingen  ohne  weiteres,  weil  wir  in  der  Art 
seiner  Mitteilung,  in  jedem  Strich,  die  gestaltende  Empfindung 
spüren.  Dadurch  gehört  Corot  zur  Moderne.  Aber  er  gehört 
nicht  in  jedem  Sinne  zu  ihr.  Was  die  vom  Schmuck  der  alten 
Kultur  entblößte  Zeit  am  wesentlichsten  brauchte,  war  die 
schnelle  Fähigkeit,  das  Menschliche  zu  äußern.  Das  tat  er. 
Aber  daraufhin  arbeiteten  auch  Delacroix  und  Daumier,  und 
doch  rechnen  wir  sie  nicht  zu  den  Modernen.  In  beiden  wirkt 
noch,  unendlich  modifiziert,  das  Stilelement  der  Alten.  In  Dela* 
croix  macht  es  die  Romantik  rhetorisch,  in  Daumier  biegt  es 
sich  zur  Karikatur.  Sie  sind  beide  Enzyklopädisten  der  Formen? 
revolution,  vertreten  die  Rolle  eines  Diderot,  aber  sind  noch  nicht 
Revolutionäre  der  Tat. 

Deren  sollte  die  Zeit  eine  stattliche  Anzahl  gebären.  Corot 
gehört  nicht  zu  ihnen.  Es  hieße  St.  Vincent  de  Paul  einen 
Jakobiner  nennen,  wollte  man  Corot  Umstürzlerideen  zutrauen. 
Es  fehlt  ihm  das  subjektiv  Revolutionäre  der  Rousseau  und  Dupre 
und  noch  viel  mehr  das  der  Courbet  und  Manet.  Aber  dieser 
Mangel  gibt  ihm  just  die  Ausnahmestellung  in  seinem  Zeitalter 
und  enthält  den  mit  nichts  zu  vergleichenden  Segen  seines 
Wirkens.  Revolutionäre  kamen,  mußten  kommen.  Die  Zeit 
rief  sie.     Das  Programm  ergab  sich  von  selbst.     Courbets  Rea? 

11 


lismus  —  freilich  nicht  seine  Malerei  —  ist  eine  fast  mathematisch 
berechenbare  Erscheinung.  Ein  Corot  aber  stand  nicht  in  dem 
Programm.  Er  war  die  Überraschung  des  Himmels.  Gerade 
das  Nichtrevolutionäre  seiner  Gabe  wirkte  Wunder.  Es  brachte 
ihn  um  den  augenblicklichen  Erfolg,  um  den  Enthusiasmus,  der 
Courbet  zujubelte  und  dem  Corot  selbst  in  rührender  Weise 
Tribut  brachte  (glaubte  er  doch  einmal,  angesteckt  von  Dau* 
bignys  Enthusiasmus,  dem  fiimmel  danken  zu  müssen,  in  einem 
Jahrhundert  mit  Courbet  zu  leben),  aber  es  bewahrte  ihn  vor 
dem  tiefen  und  ungerechten  Fall,  vor  dem  ungeheuerlichen  Ge:* 
schick  Courbets,  den  man  wie  ein  abgebrauchtes  Möbel  in  die 
Ecke  stellte,  nachdem  er  der  Welt  das  Losungswort  gebracht 
hatte.  Man  glaubte  Courbet  mit  seinem  Programm  erledigt  und 
übersah,  daß  er  himmelhoch  darüber  hinwegragte.  Corot  hatte 
kein  formuliertes  Programm  außer  dem  „Confiance  et  conscience". 
Tatsächlich  aber  realisierte  er  das  denkbar  Positivste  aller  Pro^ 
gramme:  die  Erhaltung  der  Überlieferung  im  neuen  Geiste. 
Nicht  die  Form,  sondern  der  Geist  der  Überlieferung  lebte  in 
ihm  und  wurde  unbewußt  zum  Triebe.  Er  wollte  nichts  an^ 
deres  malen,  als  was  er  sah,  aber  er  malte  in  Wirklichkeit  alles 
mit,  was  ein  Mensch,  der  durch  und  durch  Franzose  war, 
empfand;  allen  Optimismus  der  glücklichen  Rasse,  all  das  reiche 
Legendenbewußtsein  eines  Volkskindes.  Seine  Nymphen  ents* 
standen  wie  seine  Bäume.  Er  muß  sie  gesehen  haben.  Sie 
sind  organische  Wesen  seiner  Natur,  und  wo  sie  fehlen,  ist  die 
Natur  so  gemalt,  als  müßten  sie  irgendwo  erscheinen.  Das  ist 
von  Anfang  so,  auch  als  er  an  nichts  anderes  dachte,  als  von 
der  Natur  sehen  —  „lesen  und  schreiben"  könnte  man  es  bei 
ihm  nennen  —  zu  lernen,  und  schon  dieses  unwillkürlich  gQ^ 
milderte  Verhältnis  zur  Natur,  das  wir  noch  deutlicher  zu  zeigen 
hoffen,  gab  ihm  eine  von  den  Malern  in  Barbizon  durchaus 
gesonderte  Stellung.  Diese  trat  zunächst  in  seiner  geringeren 
Abhängigkeit  vom  Boden  hervor.  Rousseau  und  Dupre  waren 
seßhafte  Leute.  Corot  flog  wie  ein  Schmetterling  über  die  Welt, 
war  bald  hier,  bald  dort,  von  einer  Beweglichkeit,  die  man 
Mühe  hat,  mit  seinem  Behagen  in  Einklang  zu  bringen,  und 
die  trotzdem  so  gut  dazu  paßte,  daß  sich  niemand  darüber 
wunderte,   ihn  im  Sommer  alle  14  Tage   wo   anders   zu   wissen. 

12 


Am  seltensten  kam  er  Rousseau  ins  Gehege.  Seine  Welt 
war  nicht  der  magistrale  Wald  von  Barbizon,  sondern  eher  die 
Lieblichkeit  des  Teiches  von  Ville  d'Avray  mit  den  koketten 
Ufern,  auf  denen  man  heute  noch  zuweilen  des  Abends  von 
dem  Platz  aus,  wo  das  Denkmal  steht,  Corotsche  Bilder  zu  sehen 
meint;  oder  Nantes  mit  dem  Fluß  und  den  Brücken,  oder  Arras 
mit  der  langen,  oft  gemalten  Chaussee,  wo  die  Freunde  wohnten; 
einfache,  aufrichtige  Bewunderer,  stille  Leute  wie  er,  in  deren 
Kreise  er  sich  vielleicht  wohler  fühlte,  als  unter  den  philoso^ 
phierenden  Kollegen.  Oder  Auvers,  im  lieblichen  Tal  der  Oise, 
wo  er  Daumier  das  Haus  schenkte;  die  Landschaft,  die  später 
Cezanne  und  Pissarro,  zuletzt  van  Gogh  verherrlichten,  und  die 
für  die  moderne  Malerei  mindestens  so  wichtig  geworden  ist 
wie  Barbizon. 

Aber  er  gehört  wohl  überhaupt  zu  keiner  besonderen  Lands= 
Schaft  der  Natur.  Er  hatte  das  Bild  in  sich  und  gebrauchte  das 
Äußere  nur  zur  Bestätigung  seiner  Träume,  war  einer  von  den 
Wundermenschen,  die  mit  Formen  geboren  werden,  wie  andere 
Leute  mit  anderen  Dingen.  Man  hat  lange  gemeint,  die  Form 
als  solche  wäre  nicht  seine  Sache  gewesen,  er  hätte  die  Un:* 
deutlichkeit  gesucht,  nicht  zeichnen  gekonnt  und  wäre  deshalb 
nur  im  Dämmerlicht  Herr  seiner  Mittel  gewesen.  Soweit  das 
ein  Vorwurf  gegen  seine  Kunst  sein  soll,  ist  es  nicht  richtig. 
„II  ne  faut  laisser  d'indecision  dans  aucune  chose"  notiert  er  in 
seinem  Reisenotizbuch,  als  er  zum  ersten  Male  nach  Italien  kam. 
Mit  seiner  Gewissenhaftigkeit  hätte  sich  solcher  Kompromiß  nicht 
vertragen.  Wer  ihm  ungenügende  Zeichenkunst  vorwirft,  tadelt 
auch  an  Greco,  Rembrandt  und  Rubens  diesen  vermeintlichen 
Mangel.  Zeichnen  im  Kunstsinne  heißt  nichts  anderes  wie  Malen: 
die  Fähigkeit,  mit  Bleistift  oder  mit  der  Feder  gleichwie  mit  dem 
Pinsel  eine  Empfindung  durchs  Auge,  der  Art  des  Autors  ent^ 
sprechend,  und  mit  der  dadurch  bedingten  Vollkommenheit  zu 
fixieren.  Die  Art  der  Klassizisten  war  nicht  die  seine.  Auch 
die  der  Cinquecentisten  lag  ihm  nicht.  Während  der  zwei  Jahre 
seines  Aufenthalts  in  Rom  ging  er  kein  einziges  Mal  in  die 
Sixtina,  und  als  er  15  Jahre  später  zurückkehrte,  ließ  ihn  MicheU 
angelo  kalt.  Also  nicht  der  Umriß  war  seine  Sache,  und  wie 
sollte  der  es  auch  bei  einem  Künstler  sein,  der  alles  nur  in  großen 

13 


Massen  sah,  für  den  es  in  der  Natur  nur  Formen  und  Töne, 
ja  im  Grunde  nur  Töne  gab,  der  aber  mit  dem  Ton  alles  zu 
schaffen  wußte.  Seine  Zeichnungen,  sowohl  die  frühesten,  z.  B. 
die  Porträts  der  Modistinnen  im  elterlichen  Atelier,  als  auch  die 
Tänzerinnen  und  Nymphen  der  siebziger  Jahre,  setzen  sich  aus 
zaghaften  Kritzeleien  zusammen.  Das  Kindliche,  Autodidakten* 
hafte  seiner  Kunst  blieb  hier  am  deutlichsten.  Wo  sich  seine 
Zeichnung  ganz  auf  den  reinen  Strich  beschränkt,  ist  sie  tat^ 
sächlich  nur  eine  Notiz  ohne  jede  künstlerische  Prätention.  Er 
bediente  sich  ihrer  wie  mnemotechnischer  Mittel.  Man  findet 
zuweilen  auf  den  Blättern  kleine  Kreise  und  Quadrate,  die,  wie 
Andre  Michel  berichtet,  seine  Stenographie  darstellen.  Der  Kreis 
besagt  Helligkeit,  das  Quadrat  Schatten.  Niemandem  wird  ein:* 
fallen,  solche  Notbehelfe  mit  meisterhaften  Zeichnungen  zu  ver* 
gleichen,  und  insofern  hatte  die  Kritik  recht,  daß  er  schlecht 
zeichnete.  Sobald  er  aber  den  Ton  auf  das  Papier  ließ,  wurde 
es  anders.  Mit  drei  Flecken  Schatten  und  ebenso  vielen  Strichen 
machte  Corot  eine  Landschaft.  Es  blieb  immer  ein  sehr  zarter 
Bau,  denn  er  mußte  nach  dem  Willen  seines  Schöpfers  beweg* 
lieh  bleiben,  um  in  das  Herz  des  Betrachters  hineinwachsen  zu 
können.  „Sa  forme  flottante,"  sagt  Jean  Rousseau  in  seiner 
hübschen  Studie,  ,,semble  toujours  en  mouvement.  Plus  ecrite 
eile  serait  immobile"^).  Das  gilt  von  seinen  Zeichnungen  wie 
von  seinen  Gemälden.  Ihre  Zartheit  hindert  sie  nicht,  einen 
göttlichen  Hauch  zu  tragen.  Millet  begeisterte  sich  daran.  Seine 
besten  Zeichnungen,  zumal  die  traumhaft  an  die  Antike  erinnern* 
den,  sind  von  Corotschem  Geist  durchdrungen.  Später  hat  sich 
Renoir  und  zumal  Pissarro  darauf  besonnen,  und  heute  glaubt 
man  in  Bonnards  lithographierten  Phantasien  ein  ähnlich  kind* 
liches  Genie  aufstehen  zu  sehen. 

Der  Ton   war  Corots   großes  Mittel.     Die  Form   im  Bilde 


^)  Jean  Rousseau:  Camille  Corot,  suivi  d'un  Appendice  par  Alfred 
Robaut,  Paris,  Librairie  de  l'Art,   1884. 

Corot  war  übrigens  geneigt,  seine  Gabe  gering  zu  schätzen.  Man  er? 
zählt  sich  die  hübsche  Anekdote,  daß  er  sich  einmal  zu  Daubigny  über  un? 
genügende  Beherrschung  des  ,, Metier"  beklagte.  Worauf  ihm  der  Freund 
zur  Antwort  gab:  ,,Comment  tu  manques  de  metier!  Tu  ne  mets  rien  sur 
la  toile,  et  tout  y  est." 

H 


sah  er  lediglich  in  der  Gesamtheit  der  Valeurs.  „Was  es  in  der 
Malerei  zu  sehen  gibt,*'  sagte  er  einmal,  „oder  vielmehr,  was  ich 
suche,  ist  die  Form,  das  Ganze,  das  Gleichgewicht  der  Töne. 
Die  Farbe  kommt  für  mich  erst  nachher."  Er  machte  die  Farben 
mit  Licht  und  Schatten  wie  Rembrandt.  Fran^ais  nannte  ihn 
den  Rembrandt  des  Freilichts.  Das  sagt  ein  wenig  zu  viel.  Nicht 
neben  Rousseau,  wie  Corot  in  seiner  Bescheidenheit  glaubte, 
wohl  aber  neben  dem  größten  Holländer  erscheint  er  wie  die 
Lerche  neben  dem  Adler.  Nur:  wem  würde  es  einfallen,  die 
Grazie  mit  der  Kraft  zu  vergleichen.  Zu  Rembrandts  Werk 
bedurfte  es  eines  Riesen.  So  groß  er  erscheint,  er  durfte  nicht 
geringer  sein,  um  die  Ansprüche,  die  er  selbst  schuf,  zu  erfüllen. 
Solche  Gewalt  hat  in  den  Bildern  Corots  keinen  Platz.  Ein 
Zuviel  davon  hätte  den  Bau  zerstört.  Corot  schuf  seinem  Genie 
genau  das  passende  Nest.  Wie  große  Dinge  schließlich  daraus 
hervorgingen,  hoffen  wir  zu  zeigen. 


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Junger  Bauer  aus  der  römischen  Campagna.     1825- 
0,25x0,32.     (Moreau.Nelaton  57.) 
Moderne  Galerie  Thannhauser,  München. 
Photo  Durand#Ruel,  Paris. 


-26. 


Die  Lehre 

Als  fast  Dreißigjähriger  ging  Corot  1825  nach  Rom,  um 
ernstlich  zu  arbeiten.  Rom  mag  ihn  ursprünglich  angezogen 
haben  wie  alle  Zeitgenossen  Ingres'  als  das  große  Kompendium 
des  Schönen,  aus  dem  die  Väter  Stärke  und  Form  ihres  Enthusiast 
mus  gewonnen  hatten.  Er  ging  als  Bertin^^Schüler  hin  und  hätte 
normalerweise  wie  dieser  an  der  melkenden  Kuh  ziehen  müssen, 
um  einer  von  vielen  zu  werden.  Dagegen  tat  er  dort  so,  als 
gehöre  Rom  zu  den  Vororten  von  Paris,  wo  man  nicht  schlechter 
nach  der  Natur  arbeiten  könne,  als  jenseits  der  Fortifikationen 
an  der  Seine.  Die  alten  Meister  des  Marmors  und  der  Malerei 
schienen  nicht  zu  existieren.  Die  Natur  kopierte  er  in  seiner 
Art,  so  getreu  er  es  vermochte.    So  überzeugter  Realist  ist  Corot 


16 


kaum  je   wieder  gewesen.     Nachher  wurde  er  es  mit  der  Sub^ 
jektivität,  die  schließHch  auch  den  Traum  für  Natur  nahm.    In 
Rom   dagegen   war   er   es   so  wirkUch,   als  er  es  überhaupt  sein 
konnte.    Seine  ersten  Bilder  sind  verhältnismäßig  nüchtern.    Man 
fängt  jetzt  an,   diese   frühe,   einst  verachtete  Zeit  zu  lieben;  es 
ist  die  natürliche  Reaktion  auf  die  Überschätzung  der  singenden 
Bilder  der  Spätzeit.    Manches  der  allerersten  Zeit  grenzt  an  das 
Topographische.     Corot  begann  mit  dem  Anfang.    Er  studierte 
die   Welt,   bevor  er  sie   eroberte.     Es  ist  kein   sehr  merklicher 
Unterschied   zwischen   den  ersten  römischen  und  den  vorher  in 
Frankreich  entstandenen  Bildern.     Der  Stil  scheint  mehr  in  der 
Wahl  des  Sujets,  im  Ausschnitt,  weniger  in  der  Mache  zu  stecken. 
Aber  unter  diesem  Schein  verbirgt  sich  der  ganze  Corot.     Die 
oft  kopierte  Tiber^^Brücke  mit  der  Peterskuppel  in  der  Mitte  und 
dem   Engelsturm    zur   Rechten,    die    etwas    spätere  Ansicht    des 
Kolosseums,   im   Louvre,   und   ähnliche  kleine  Bilder  kündigen 
schon    das    Raumwirkende    der   Meisterwerke    an,    die    delikate 
Koloristik  und  feine  Abtönung.    Unzählig  sind  die  Motive  aus 
der   Umgegend   Roms    und    verblüffend   mannigfach.     Je   mehr 
sich    später    gewisse    seiner   Landschaften    gleichen,    desto    ver^ 
schiedener  sind  sie  im  Anfang.    Es  war,  als  suchte  er  möglichst 
viele  Formen  in  sich  aufzunehmen,  um  daraus  nachher  eine  Ein^ 
heit  zu  bilden.     Tatsächlich  hat  er  aus  mancher  Landschaft  der 
ersten  römischen   Zeit   ein  viertel  Jahrhundert  später   die  Szene 
zauberischer   Feste    geschaffen.      So    aus    der   kleinen   Parkland^ 
Schaft   mit    dem    Kolosseum    im   Hintergrund    des  Jahres    1826, 
früher  in  der  Galerie  Doria,  den  berühmten  Nymphens=Tanz  des 
Salons  von  1850,  heute  im  Louvre.    Auch  die  Zeichnungen  dieser 
Zeit  sind  die  korrektesten,  die  er  je  gemacht  hat;  zuweilen  von 
rührendem  Fleiß,   um   die  Einzelheit  genau   zu   erfassen.     Aber 
schon  damals  spielte  die  Hand  ihm  den  Streich,  mehr  zu  wollen, 
als    das  Auge    aufnahm.      Aus    den   Felsen    werden    von   selbst 
Terrassen,   die   Baumgruppen  fließen  in  geschwungenen  Linien 
zusammen,   der   Rhythmus  bildet  sich.     Noch  widersteht  Corot 
dem  dichterischen  Drange,  versucht  mehr  der  Natur  als  sich  selbst 
zu  folgen.    Die  ganze  römische  Zeit  dient  ihm,  die  solide  Ana- 
tomie  des  Baues   zu   schaffen,   die   ihn   später  beherbergen  soll, 
und  ein  Teil  des  großen  Reizes  dieser  Periode  mag  in  den  unteres 

M  c  i  c  r  =  Ci  r  a  e  f  e  ,    C^.orot.  2 

17 


drückten   Gedichten   liegen,   die   man   unter   der  gewissenhaften 
SachHchkeit  ahnt. 

Beladen  mit  Bildern  kam  er  1828  zurück,  und  nun  beginnen 
seine  Streifzüge  durch  Frankreich.  Er  malt  die  ersten  Bilder  von 
Ville  d'Avray  und  Fontainebleau,  schildert  die  See  von  Dieppe 
und  Honfleur,  die  Quais  seiner  alten  Studienstadt  Rouen  und 
sucht  das  Ansehen  in  seiner  Familie  durch  eine  Unmenge  sorg? 
fältiger  Portraits  zu  heben,  die  trotz  ihrer  sauberen  Intensität 
den  mißtrauischen  Seinigen  wie  Karikaturen  erschienen.  Die 
Landschaften  sind  immer  noch  Rekognoszierungen  des  Künstlers, 
glänzende  Terrain^Studien.  1834  geht  er  zum  zweitenmal  nach 
dem  Süden.  Diesmal  bleibt  er  in  Ober:=Italien,  in  Pisa,  wo  er 
das  Medaillon  des  Campo  santo  skizziert,  in  Florenz,  wo  er  im 
Boboli^Garten  eine  seiner  Art  ideal  angepaßte  Szenerie  findet. 
In  Venedig  zeichnet  er  mit  eingehender  Genauigkeit  die  archis= 
tektonischen  Details  der  Piazza  und  bringt  wieder  eine  Menge 
intimer  Bilder  kleinen  Formats  nach  Hause. 

1835  tritt  er  zum  erstenmal  mit  einigem  Aplomb  hervor,  er 
stellt  im  Salon  die  Hagar  in  der  Wüste,  sein  erstes  großes  Bild, 
aus.  Im  Vordergrund  einer  Felsenlandschaft  kniet  die  verstoßene 
Flagar  neben  dem  kleinen  schlafenden  Ismael  und  hebt  ver^* 
zweifelt  die  Arme  zum  Himmel. 

Man  erkennt  Corot  kaum  wieder.  Nach  den  kleinen  Bildern 
der  Vorzeit,  in  denen  er  mit  größter  Schmiegsamkeit  anscheinend 
nur  der  Natur  folgte,  wirkt  die  Hagar  in  der  Sammlung  Galli? 
mard  wie  das  Werk  eines  anderen  Menschen.  Der  Unterschied 
berührt  fast  unbehaglich,  denn  er  stellt  gerade  das  in  Frage,  was 
man  vorher  geschätzt  hat,  die  harmlose  Aufrichtigkeit.  Die 
Hagar  ist  ein  konventionelles  Gemälde,  der  Zusammenhang 
mit  der  französisch^römischen  Landschafter? Schule  springt  in  die 
Augen.  Die  Landschaft  ist  nach  klassischem  Rezept  komponiert, 
die  Staffage  nach  demselben  Vorbild  hineingesetzt,  das  Motiv 
mag  ihm  Benozzo  Gozzoli  im  Campo  santo  von  Pisa  gegeben 
haben.  Und  über  dieser  leicht  erkenntlichen  Unselbständigkeit 
ist  man  versucht,  in  dem  Bilde  das  zu  übersehen,  was  von 
Corot  darin  ist. 

Diese  Enttäuschung  fällt  in  Wirklichkeit  dem  Betrachter  zur 
Last.     Wer  in  Corot  einen  Revolutionär  sucht,  wird  immer  zu 

18 


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kurz  kommen.  Die  Entwicklung  der  modernen  Kunst  rührt  nicht 
von  Corot  her.  Er  hat  von  ihr  genommen  und  hat  ihr  gegeben, 
aber  spielt  nicht  die  entscheidende  Rolle,  die  von  seinen  engeren 
Zeitgenossen  Rousseau  am  deutlichsten  repräsentiert.  Rousseau 
setzte  seine  ganze  Überzeugung  und  ein  außerordentlich  kom^^ 
plexes  Können  ein,  um  eine  neue  Landschaft  zu  schaffen,  in  der 
kein  Atom  mehr  von  der  alten  Konstruktion  der  Poussin  und 
Claude,  der  französischen  Nachfolger  der  Venezianer,  mitspielte. 
Er  gewann  die  Anregung  dazu  aus  der  den  Italienern  entgegenge^ 
setzten  Kunst,  aus  Holland,  und  betrat  so  den  einzigen  möglichen 
Weg,  um  die  Malerei  geeignet  zu  machen,  wieder  zu  dem  Medium 
individueller  natürlicher  Anschauung  zu  werden.  Von  dieser 
Entscheidungstat  hielt  sich  Corot  fern.  Er  war  in  Italien,  wäh^ 
rend  in  Barbizon  die  ersten  Landschaften  —  die  ersten  Axtschläge 
zur  Gründung  einer  neuen  Ansiedelung  des  Natürlichen  —  gt^ 
macht  wurden.  Vergessen  wir  nicht,  daß  er  schon  erwachsen 
war,  als  Rousseau,  Dupre  und  Millet  geboren  wurden,  daß  er 
Rousseau  und  Millet  überlebte,  etwa  drei  Jahre  vor  Courbet 
und  Daubigny  starb  und  daß  er  bis  zum  letzten  Moment  ar^^ 
beitete.  Er  vermochte  also  die  ganze  Entwicklung  der  anderen 
zu  umfassen.  Das  gelang  ihm,  aber  er  wäre  nicht  Corot  ge* 
wesen,  wenn  er  darin  aufgegangen  wäre.  Seine  Eigenheit  beruht 
auf  der  nur  bedingten  Auseinandersetzung  mit  der  modernen 
Tendenz.  Ein  Teil  seines  Wesens  stand  nach  anderen  Dingen 
und  war  mindestens  ebenso  entscheidend. 

Fromentin  hat  in  einem  glänzenden  Kapitel  die  Eroberung 
Alt^Hollands  durch  die  Franzosen  von  1830  geschildert.  Darin 
stellt  er  Corot  abseits  und  nennt  ihn  ,, nichts  weniger  als  hol? 
ländisch'").  Diese  Bemerkung  klingt  im  Munde  des  Verehrers 
der  Holländer  fast  wie  ein  Vorwurf  zugunsten  Rousseaus.  So 
richtig  sie  an  sich  ist,  so  falsch  wäre  diese  kritische  Folgerung. 
Ganz  abgesehen  von  den  persönlichen  Resultaten,  könnte  man 
mit  Recht  einwenden,  daß  wenn  es  von  größter  Wichtigkeit 
war,  die  Holländer  zu  erobern,  die  Erhaltung  der  französischen 
Tradition  kein  geringeres  Interesse  beansprucht;  daß  sich  in  die 
erste  Arbeit  viele  große  Künstler  teilten,  während  die  andere 
Aufgabe  im  wesentlichen  nur  einem  einzigen  zufiel. 

')  Les  Maitres  d'autrefois  (PIon^Nourrit,  Paris   1902),  S.  276. 

20 


Corot  ist  der  letzte  Nachkomme  Claudes,  und  so  gut  kein 
Erfolg  irgend  einer  Zeit  uns  um  die  göttliche  Poesie  dieses 
großen  Sängers  bringen  kann,  so  wenig  vermag  die  Einsicht, 
daß  Corot  nur  zögernd  dem  Zug  der  Zeit  folgte,  das  Entzücken 
an  seiner  Dichtung  zu  schmälern,  die  ebenso  echt  und  rein 
seiner  Empfindung  entquoll  wie  die  rauhere  Art  den  Freunden 
in  Barbizon.  Er  stützt  sich  ursprünglich  nur  auf  französische 
Vorgänger,  und  wenn  die  Schule  Rousseaus  den  Wert  Ruysdaels 
wiederbelebte,  Corot  verdanken  wir  die  Erinnerung  an  einen  Kreis, 
der  leichter  als  Ruysdael  der  Vergessenheit  anheimfallen  konnte 
und  von  Corots  Enthusiasmus  uns  näher  gerückt  worden  ist. 

Wenn  die  Kunstbetrachtung  einst  nicht  mehr  auf  das  rein 
Persönliche  gerichtet  sein  wird,  auf  das  Selbstverständliche,  über 
das  man  nur  zu  leicht  das  Wesentliche  vergißt;  wenn  man 
weniger  ängstlich  mit  sich  und  den  Medien  seiner  Erbauung 
und  dafür  genußsüchtiger  und  aufrichtiger  zu  Werke  gehen  wird, 
erleben  die  Museen  vielleicht  eine  gründliche  Reorganisation. 
Eine  neue  Gruppierung,  nicht  mehr  nach  Ländern  oder  Jahr:= 
hunderten  oder  ähnlichen,  willkürlichen  Begriffen,  sondern  nach 
Werken,  nach  den  Tendenzen  der  Werke.  Der  Beschauer  wird 
dann  nicht  mehr  genötigt  sein,  wie  ein  Trapezkünstler  im  Zirkus 
Akrobatenstücke  im  Reiche  der  Empfindungen  aufzuführen,  weil 
jedes  Bild  mit  dem  benachbarten  kontrastiert  und  neue  Ein* 
Stellungen  verlangt,  sondern  zu  der  Freude  über  das  Kunstwerk 
wird  Behagen  hinzutreten.  Man  denke  sich  die  Künstler  nach 
Familien  geordnet;  nicht  nur  die  Werke  des  einen  zusammen, 
sondern  ihn  ergänzt  mit  allen  Vorgängern  und  Nachfolgern,  die 
eine  ähnliche  Konstellation  ihrer  Sinne  mitbrachten.  Nicht  nur 
die  Wissenschaft  würde  dabei  gewinnen,  auch  der  Laie.  Dem 
Durchschnittsmenschen,  der  ahnungslos  vor  einen  Unbekannten 
tritt  und  sich  des  Bädekers  bedient,  um  seine  Empfindung  zu 
konstatieren,  würde  mancher  Meister,  den  ihm  keine  Kunstge* 
schichte  klarzumachen  vermag,  vertraut,  weil  das,  was  ihm  heute 
fremd  und  unbegreiflich  erscheint  —  man  denke  an  die  Mo* 
dernen  —  durch  Abstufungen  verständlich  würde.  Aus  dem* 
selben  Grunde  gelangte  der  Kenner  zu  größren  Genüssen,  denn 
der  latente  Urgrund  alles  ästhetischen  Empfindens,  das  Chaos 
von  Erinnerungen  an  schöne  Dinge,  die  durch  das  Werk  gelockt 

21 


werden,  würde  hier  durch  die  leibhaftige  Vorführung  wenigstens 
eines  Teils  dieser  Elemente  vervielfacht  werden.  Niemand  käme 
dabei  zu  kurz,  denn  das  Kunstwerk,  das  durch  solche  Familien? 
tage  an  Rang  verlöre  —  und  vielleicht  wären  das  nicht  wenige 
in  neueren  Museen  — ,  erwiese,  daß  es  nicht  mit  legitimem  Recht 
am  Platze  war.  Da  der  einzige  Weg  zur  ästhetischen  Reife  im 
fortwährenden  Vergleich  der  Werke  liegt,  da  hier  gleichzeitig 
Wissen  und  Genießen  das  Maximum  einlösen,  nimmt  es  wunder, 
daß  solche  natürliche  Erleichterung  der  Erkenntnis  nicht  längst 
einmal  versucht  wurde  und  man  sich  immer  noch  im  besten 
Falle  an  die  »Schulen«  hält,  die  von  dieser  Gemeinsamkeit  ge^ 
gewöhnlich  nur  grobe  Umrisse  zeigen. 

In  unserem  wie  in  jedem  Falle  würden  auf  solche  Art  eine 
Menge  heute  mit  Unrecht  unterschätzter  Meister  zur  relativen 
Geltung  kommen.  Im  Kreise  der  Vorgänger  Corots  dürften 
z.  B.  die  beiden  Lieblinge  der  Zeit  Louis'  XVI.,  Joseph  Vernet 
und  Hubert  Robert,  nicht  fehlen.  Vernet  wurde  von  Diderot, 
der  ihn  über  Claude  Lorrain  zu  stellen  wagte ^),  überschätzt,  von 
den  Nachfolgern  aber  zu  schnell  zu  den  andern  Resten  der 
Vergangenheit  geworfen.  Corot  schwärmte  nicht  für  die  großen 
Lieblingsbilder  Diderots,  sondern  hielt  sich,  wie  seine  Kopie 
nach  Vernet,  bei  Cheramy,  beweist,  an  die  intimeren  Landschaften 
des  Ruinenmalers  und  gewann  daraus  manche  Anregung  für 
das,  was  Diderot  »elever  des  vapeurs  sur  la  toile«  nannte,  die 
Kunst,  die  schon  in  den  ersten  Rombildern  deutlich  ist.  An 
Hubert  Robert  liebte  er  sicher  weniger  die  ewigen  Architekturs* 
Arrangements,  um  die  sich  einst  die  Pariser  Gesellschaft  riß, 
als  die  kleinen,  aufrichtigeren  Bilder,  wie  z.  B.  die  Wasser:^ 
trägerin^)  im  Louvre,  von  zartem  Ton  um  die  lebendige  Arabeske. 
Zu  Vernet  und  Hubert  Robert  tritt  vor  allem  L.  G.  Moreau, 
einer  der  feinsten  Landschafter  derselben  Zeit,  dessen  Meudon:« 
Bilder  die  Frische  der  besten  Zeit  Corots  voraussagen^).    Dann 


^)  Diderots  Salon  von  1765  (in  den  Oeuvres  Completes,  Paris,  Garnier 
1876,  Band  X,  S.  315). 

-)  Louvre  Nr.  811. 

^)  Von  den  Bildern  im  Louvre  Nr.  650  und  651  namentlich  das  erstere. 
Im  Saal  Daru,  wo  diese  Bilder  und  die  Roberts  hängen,  findet  man  noch 
manche  andere,  die  dazu  gehören.     Moreau  lebte  von  1740  bis  1806. 

22 


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Simon  Lantara,  der  erste  Landschafter  von  Fontainebleau,  der 
schon  um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  in  dem  berühmten 
Walde  malte.  In  dem  Kreise  des  merkwürdigen  Vagabunden 
finden  wir  außer  Hue  und  Huet  einen  deutschen  Landsmann, 
Ferdinand  KobelP),  mit  reizenden  Zeichnungen  im  Stile  dieser  Zeit. 
Joseph  Vernet  und  Hubert  Robert  standen  in  der  ersten 
Reihe  der  Bewegung,  die  die  Rückkehr  zur  Antike,  die  Reaktion 
auf  Watteau  vollbrachte.  Sie  waren  für  diese  zweischneidige 
Errungenschaft  wesentlicher  als  David,  der  nach  ihnen  kam  und 
der  Reaktion  ein  Gesicht  gab,  das  viele  edle  Tendenzen  dieses 
Rückgriffs  mit  einer  bewegungslosen  Maske  zudeckte.  Gabillot 
hat  dieses  Verhältnis  in  einer  sorgfältigen  Arbeit  klargestellt"), 
David  bediente  sich  der  Antike  als  eines  Abzeichens  für  den 
Revolutionär  im  Gegensatz  zu  der  Kunst  der  gestürzten  Tyrannen. 
Tatsächlich  aber  war  die  eigentliche  Wiedereroberung  der  Antike 
das  Werk  desselben  königlichen  Geistes,  der  das  Dix==huitieme 
geschaffen  hatte.  Wie  in  der  Architektur  das  Louis  Seize  dem 
Empire  vorhergeht,  so  hatte  die  Malerei  unter  Ludwig  XVL  in 
sehr  viel  graziöserer  Form  vorausgesagt,  was  die  Maler  der 
Revolution  mit  unzarten  Händen  ausbeuteten.  Dieser  ganze 
Klassizismus  sah  in  der  Antike  zumal  die  römische,  deren  kom^» 
paktere  Reste  dem  baulustigen  18.  Jahrhundert  bedeutender  als 
die  griechischen  erschienen,  weil  er  mit  jenen  mehr  anfangen 
konnte.  Die  Eroberung  ging  nicht  von  Malern,  sondern  von 
Baumeistern  aus,  und  die  große  Bedeutung,  die  in  allen  Bildern 
der  Zeit  die  Ruine  darstellt,  die  Wichtigkeit,  die  selbst  Diderot 
diesem  Detail  in  den  Bildern  seiner  Zeitgenossen  zusprach,  zeigt 
noch  die  Abhängigkeit  der  Maler  von  den  Architekten.  Die 
Künstler  waren  sich  des  römischen  Charakters  der  übernommenen 
Antike  durchaus  bewußt.  Noch  1774  erkannte  im  „Mercure 
de  France"  Peyre,  einer  der  Architekten  des  Pariser  Odeon^ 
Theaters,   die  Abhängigkeit   der  Römer  von  den  Griechen  und 


')  Figurierte  in  den  „Expositions  de  la  Jeunesse"  der  Place  Dauphine, 
über  die  die  , .Gazette  des  Beaux*Arts"  vor  einigen  Jahren  ein  Aufsatz  von 
Dorbec  brachte.  Hier  auch  einige  Abbildungen  nach  den  von  Fr.  Hegi 
gravierten  Landschaften  Kobells. 

^)  Hubert  Robert  et  son  temps  par  C.  Gabillot  (Paris,  Librairie  de  l'Art, 
1895),  namentlich  das  erste  Kapitel. 

24 


Selbstporträt  mit  der  Palette.     Gegen  1835. 

0,33  X  0,25.    (Moreau.Nelaton  370.) 

Florenz,  UfHzien. 


25 


Ägyptern,  meinte  aber,  die  Römer  hätten  ihre  Vorgänger  soweit 
übertroffen,  daß  man  sich  mit  Recht  nunmehr  nur  an  ihre  Reste 
halten  müsse.  Gabillot  nennt  die  Männer  der  Revolution  „so 
wenig  griechisch  wie  möglich.  Sie  sind  vor  allem  Römer.  Sie 
hätten  in  Athen  und  Sparta  ebensogut  wie  in  Rom  Vorbilder 
des  Heroismus  finden  können.  Ihre  Erziehung  trieb  sie,  Römer 
zu  bleiben." 

Nichts  von  dieser  römischen  Antike  findet  sich  in  Corot. 
Er  scheidet  die  Vergröberung  Davids  völlig  aus  und  hält  sich, 
soweit  hier  überhaupt  von  Anlehnung  die  Rede  sein  kann,  an 
die  zarteren  Anreger  aus  dem  18.  Jahrhundert.  Und  von  diesem 
Kreise  findet  man  leicht  den  Weg  noch  weiter  in  die  Vergangen* 
heit  zurück.  Unter  den  Landschaftern  des  17.  Jahrhunderts 
haben  mehrere  die  eigentümliche  Szenerie  Corots  vorbereitet; 
am  deutlichsten  Franz  Millet.  Wieder  wirkt  hier  die  Entwick* 
lungsgeschichte  als  Kontrolle.  Was  Diderot  von  Millet  nicht 
wollte  und  „au  pont  Notre  Dame"  verwünschte,  nützt  uns  auch 
heute  nichts.  Daneben  aber  gibt  es  einen  Millet,  der  nicht  zur 
Opera  Comique  gehört,  sondern  ein  echter  Maler  war,  z.  B.  als 
er  die  große  Landschaft  malte,  die  heute  in  der  Münchener 
Pinakothek  hängt,  in  der  die  weichliche  Atmosphäre  Dughets 
durch  die  Frische  eines  nordischen  Temperamentes  ersetzt  ist 
und,  ganz  wie  bei  Corot,  die  klassische  Form  nur  gedient  hat, 
um  eine  neue,  natürliche  Vegetation  zu  tragen').  Oder  Mou* 
cheron  —  um  einen  von  vielen  zu  nennen  — ,  dem  zuweilen  eine 
Beleuchtung  gelang,  die  uns  zwei  Jahrhunderte  später,  als  unsere 
Zeitgenossen  darauf  kamen,  wie  eine  Entdeckung  erschien.  Man 
denke  an  die  kleine  Flußlandschaft  in  Stockholm")  und  ahn* 
liehe   Bilder. 

Millet  und  Moucheron  sind  französische  Namen;  aber  der 
eine  kam  in  Antwerpen  zur  Welt  und  wird,  obwohl  er  vom 
Jünglingsalter  an  bis  zu  seinem  frühen  Tode  in  Paris  lebte  und 
seine  wesentliche  Erziehung  Frankreich  verdankt,  zu  den  flä* 
mischen  Meistern  gerechnet;  der  andere,  Frederik  de  Moucheron, 
stammte  aus  Emden  und  ließ  sich  von  Adrian  van  de  Velde  und 
von  Lingelbach  die  Figuren  in  seine  Landschaften  malen.     Alle 

')  Pinakothek  Nr.  944. 

*)  Museum  von  Stockholm  Nr.   1084. 

27 


beide  schöpften  aus  der  holländischen  Malerei  den  Mut,  sich 
menschlich  mit  dem  Klassizismus  auseinanderzusetzen.  Halten  wir 
die  Beziehung  Corots  zu  diesen  und  vielen  anderen  ähnlichen 
Meistern  fest,  so  sehen  wir,  daß  Fromentins  Behauptung, 
Corot  habe  nichts  mit  den  Holländern  zu  tun,  nur  in  sehr 
bedingter  Weise  gilt.  Er  hätte  sogar  in  Holländern  reinsten 
Wassers,  vor  allen  in  Wynants  deutliche  Vorbilder  gewisser  und 
recht  wesentlicher  Seiten  Corots  finden  können^).  Davon  ab^ 
gesehen,  konnte  er  höchstens  die  Beteiligung  Corots  an  dem 
Kanal,  den  Rousseau  nach  dem  Gelobten  Lande  baute,  be* 
schränken.  Er  sah  nicht,  daß  Corot  sich  einer  eigenen  Kom^: 
munikation  bediente,  indem  er  die  um  zwei  Jahrhunderte  ältere 
Verbindung  fortsetzte  und  gleichzeitig  das  Hausgesetz  der  ganzen 
französischen  Kunst  erfüllte :  die  Vereinigung  des  nordischen  und 
südlichen  Elementes,  zu  der  alle  seine  ruhmreichen  Vorgänger 
das  ihre  beigetragen  hatten. 

Daß  Corot  auf  seine  Art  schließlich  doch  auch  in  die  Nähe 
Barbizons  gelangte,  werden  wir  später  finden.  Es  ist  nicht  das 
wesentlichste  Stück  seiner  Entwicklung.  Viel  wichtiger  war  sein 
unbewußtes  Eintreten  für  die  Alten.  Es  gelang  ihm,  seine  vir^ 
gilische  Poesie  mit  der  Überzeugung  eines  durchaus  natürlichen 
Instinktes  auszustatten,  die  leise  Erinnerung  an  die  Form,  die 
Poussin  und  Claude  unüberwindlich  gemacht  hatten,  mit  der 
Sachlichkeit  eines  Autodidakten  des  19.  Jahrhunderts  zu  ver^ 
binden.  Daß  er  bis  zu  diesem  Ziele  viele  Klippen  zu  umschiffen 
hatte,  liegt  auf  der  Hand.  Die  „Hagar"  zeigt  eine  von  ihnen. 
Das  Bild,  das  allen  Kritikern  der  alten  Schule,  Lenormant  z.  B., 
die  über  die  „stillosen"  kleinen  Bilder  Corots  schimpften,  ein 
Quell  der  Freude  war,  entsprang  der  naiven  Vorstellung,  daß 
man  ein  ordentliches  Salongemälde  unmöglich  anders  als  im 
,, großen"  Stil  malen  könne,  daß  dafür  die  Einfachheit  der  Natura 
bildchen  nicht  ausreiche,  daß  man  ein  Maitre  wie  die  anderen 
sein  müsse.  Aber  wenn  die  Konstruktion  der  „Hagar"  den 
Kompromiß  nicht  verbirgt,  über  das  klassizistische  Gerippe  dehnt 


')  Die  ganze  spätere  Zeit  von  Wynants  zeigt  viele  verblüffende  Pa# 
rallelen.  Vgl.  außer  vielen  anderen  die  beiden  schönen  Landschaften  in  der 
Münchener  Pinakothek  Nr.  577  und  579. 

28 


Junge  sitzende  Frdu.     Gegen   1835—40. 

0,23x0,17.     (Moreau.Nebton  383.) 

Sammlung  G.  Viau. 

Photo  Diuet,  Paris. 


29 


sich  eine  Malerei  wie  sie  Michallon  und  Bertin  nicht  geahnt 
hatten.  Schon  ist  die  Tonkunst  mächtig  am  Werk,  um  die 
romantischen  Felsen  einzuhüllen  und  die  konventionelle  Leere 
des  Hintergrundes  zu  beleben,  und  man  entdeckt,  daß  Corot 
hier  bereits  die  Fäden  einer  glänzenden  und  durchaus  harmonischen 
Entwicklung  in  der  Hand  hält. 

Insofern  unterscheidet  er  sich  von  der  Anfangsperiode  seines 
Genossen  Millet.  Der  Unterschied  läßt  genau  sehen,  wie  hoch 
die  Tradition,  auf  die  Corot  zurückgriif,  über  Millets  Vorbildern 
der  vierziger  Jahre  steht.  Dieser  hatte  das  Unglück,  bei  Dela? 
röche  einzutreten  und  die  Überlieferung  aus  den  Händen  der 
Banalität  zu  empfangen.  Delaroche  hatte  dem  Salonbild  die 
Allüre  gegeben,  die  es  noch  heute  alle  Jahre  dem  Publikum 
darzubieten  wagt.  Der  Stil  der  großen  Landschaftskompositionen 
des  18.  Jahrhunderts  war  öde  und  leer,  aber  er  ließ  sich,  wie 
Corot  zeigte,  beleben.  Delaroche  blieb  ewig  eine  totgeborne 
Sache,  kein  Stil,  sondern  eine  verdeckte  Übereinkunft,  den 
schlechten  Instinkten  der  Masse  zu  schmeicheln.  Millet  sah  sich 
im  gleichen  Rahmen,  auch  wenn  er  noch  größere  Malerfertig^ 
keiten  hineingelegt  hätte,  immer  auf  unkünstlerische  Wirkungen 
angewiesen,  und  seine  ersten  Versuche,  um  der  Welt  zu  gefallen 
—  Versuche,  die  die  bittere  Not  so  wenig  wählerisch  wie  mög^ 
lieh  machte  —  sind  unqualifizierbar.  Nach  diesem  falschen  Start 
wirkte  der  „Vanneur"  des  Jahres  1848  wie  eine  Explosion.  Da 
erst  gab  Millet  sein  erstes  Bild,  das  mit  seiner  Vergangenheit 
nur  die  geringsten  Beziehungen  hatte.  Vielleicht  brauchte  er 
diese  Katastrophe,  vielleicht  hätte  sich  sein  Enthusiasmus  nicht 
so  frei  entfalten  können,  wenn  er  nicht  vorher  durch  die  schlimmen 
Anfänge  niedergehalten  worden  wäre.  Seine  ganze  Kunst,  ja 
die  seines  ganzen  Kreises  bis  zu  van  Gogh,  hat  den  explosiven 
Charakter,  mit  dem  der  Vanneur  in  die  Welt  trat.  —  Bei  Corot 
ist  von  solchen  gewaltsamen  Entwicklungen  nichts  zu  spüren. 
Er  zeigte  in  der  „Hagar"  seine  Herkunft.  Dieser  ist  er  sein 
Leben  lang  treu  geblieben,  nur  hat  seine  glänzende  Laufbahn 
diese  Anfänge  mitveredelt.  Sein  äußerster  Kompromiß  war  meiner 
Ansicht  nach  der  St.^Jeröme  mit  dem  possierlichen  Löwen  des 
Jahres  1837.  Man  braucht  sich  nur  das  Bild  gleichen  Titels 
von  Millet  aus  dem  Jahre  1846,   oder  dessen  banale  Nuditäten 

31 


Reiter  in  italienischer  Landschaft.     1838. 

1,60x1,21.     (Moreau>Nelaton  367.) 

Photo  Druet,  Paris. 


32 


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33 


derselben  Zeit  vorzustellen,  um  den  tiefen  Unterschied  zwischen 
den  parallelen  Entwicklungsstufen  der  beiden  Künstler  zu  be^ 
greifen.  Corots  „Flucht  nach  Ägypten"  aus  1839  40  und  der 
,,Moine"  derselben  Zeit  bei  Moreau^Nelaton  zeigen  den  Fort^ 
schritt  über  die  ,,Hagar"  und  den  „Jeröme"  hinaus:  die  Untere 
drückung  vorlauter  Details,  die  gesammelte  Stimmung  in  Farbe 
und  Zeichnung,  den  Ersatz  der  gewohnheitsmäßig  respektierten 
Überlieferung  durch  die  empfundene. 

Wir  werden  auf  die  großen  Kompositionen,  die  sich  an 
diese  religiösen  Bilder  anschließen,  später  zurückkommen.  Zur 
selben  Zeit,  während  er  seiner  Frömmigkeit  einen  würdigen  Aus^ 
druck  zu  geben  suchte,  ergab  er  sich  einer  nichts  weniger  als 
kirchlichen  Kunst.  Er  ist  fleißig  des  Sonntags  in  das  Haus 
Gottes  gegangen  und  hat  dort  sogar  viele  Bilder  gemalt.  Die 
Kirche  aber,  in  der  er  sicher  am  liebsten  betete  und  malte,  die 
den  reinsten  Corot  in  sich  aufnahm,  lag  draußen  im  Freien. 
Die  Pfeiler  waren  seine  geliebten  Bäume,  die  Sonne  machte  die 
Predigt,  die  Vögel  den  Gesang,  und  die  frommen  Engel  wurden 
zu  tanzenden  Bajaderen.  Schon  1836  hatte  er  eine  badende 
Diana  mit  ihren  Gespielinnen  gemalt,  von  denen  sich  eine,  an 
einem  tief  über  den  Fluß  ragenden  Baume  hängend,  im  Wasser 
schaukelte.  Im  „Silen"  des  Salons  von  1838  tanzten  zum  ersten 
Male  die  Nymphen  im  Walde. 

Die  Lehre  Corots  ist  mit  diesen  Andeutungen  nicht  erschöpft. 
Die  Größe  des  Menschen  beruht  auf  der  Fähigkeit,  aus  jeder 
Phase  des  Lebens  eine  Frucht  zu  gewinnen,  die  der  in  seiner 
Anlage  begründeten  Vollkommenheit  eine  natürliche  Ergänzung 
zufügt.  Er  lernt  bis  zuletzt.  Der  große  Künstler  ist  das  ver^* 
klärte  Abbild  menschlicher  Größe.  Wir  sehen  deutlicher  in  ihm, 
was  jedem  von  uns  zum  Fortschritt  verhilft.  In  einem  von  den 
verwirrenden  Vielseiten  des  Daseins  befreiten  Exempel  zeigt  er 
vor  allen  Blicken  den  Kampf  ums  Ideal.  Corots  Lehrzeit  dauert 
bis  zur  letzten  Arbeit  des  Greises.  Sie  darstellen  heißt,  sein 
ganzes  Leben  beschreiben,  und  der  Leser  würde  verwirrt 
werden,  w^ollte  ich  in  diesem  Kapitel  auch  nur  die  Tendenzen 
andeuten,  denen  Corot  in  den  vielen  Perioden  seines  Schaffens 
folgte.  Wir  werden  sie  nach  und  nach  kennen  lernen.  Hier 
kam    es    nur    darauf    an,    das    Erdreich    zu    zeigen,    aus    dem 

34 


der  Meister  entstammt.  Was  dazu  kommt,  hat  er  mit 
vielen  anderen  gemein.  Es  scheint  mehr  zu  bedeuten  als  der 
Anfang,  und  doch  ist  es  dieselbe  Wurzel,  die  alle  Zweige 
Corots  speist. 


Corot,  Jugendbildnis  Daumier's,  um   1836. 

Leinwand. 

Musee  de  la  Ville  de  Paris  (Petit  Palais). 


35 


Bacchantin.     1855-60. 

0.58  X  1,02.     (Moreau.Nelaton  1872.) 

Photo  DurandsRuel,  Paris. 


Die  Frauen  Corots 

Zu  der  echten  Idylle  gehört  das  Ewig :» Weibliche.  Corot 
blieb  sein  Leben  lang  Junggeselle,  aber  der  Grund,  der  Menzel 
zum  gleichen  Stande  trieb,  war  nicht  der  seine.  Der  Passion, 
von  der  Menzel  zu  wenig  hatte,  besaß  Corot  zu  viel,  um  sich 
an  einer  einzigen  Flamme  zu  wärmen.  Das  Frous=Frou  des 
Ateliers  seiner  Mutter  wurde  er  nie  wieder  los,  noch  im  späs* 
testen  Alter  war  er  von  Frauen  umgeben.  Er  erinnert  an  Goethe. 
Auch  seine  Bilder  waren  Gelegenheitsgedichte,  und  sie  kamen 
ihm  spontan,  wie  dem  verliebten  Dichter  die  Verse.  Man  könnte 
glauben,  er  habe  sich  erst  ganz  gefunden,  als  er  die  Nymphen 
entdeckt  hatte,  und  sei  erst  mit  40  Jahren  Herr  seiner  selbst 
geworden.  Der  Mann  spielt  in  seinen  Gemälden  eine  höchst 
beschränkte  Rolle.  Freilich  gibt  es  Ausnahmen.  Ich  denke 
weniger  an  die  beschaulichen  frühen  Mönchsbilder,  in  denen 
er  seine  Gutmütigkeit  in  die  Kutte  steckte,  auch  nicht  an  den 
großartigen  Mönch  bei  Frau  Amsinck  in  Hamburg  aus  der  allere 


36 


letzten  Zeit;  denn  daß  es  sich  hier  um  Männer  handelt,  kommt 
in  zweiter  Linie').  Eher  könnte  man  die  kleinen  Selbstporträts 
nehmen,  von  denen  das  erste,  1825  noch  vor  der  ersten  ita^ 
lienischen  Reise  in  Paris  entstanden,  durch  seine  breite  Malerei 
weit  über  die  Zeit  hinausgeht;  das  zweite,  10  Jahre  später  ge^ 
malt,  und  1875,  kurz  vor  seinem  Tode,  der  Porträtgalerie  der 
Uffizien  in  Florenz  überwiesen,  zu  seinen  Meisterwerken  klc'u 
neren  Umfangs  gehört.  Seine  zahlreichen  Männerstudien  für 
die  Taufe  Christi  und  die  anderen  religiösen  Kompositionen 
sind  wenig  bedeutend.  Eine  seltene  Höhe  dagegen  erreichte  er 
in  dem  heiligen  Sebastian  aus  der  Mitte  der  fünfziger  Jahre, 
sowohl  in  der  Skizze  bei  Cheramy,  wie  in  dem  fertigeren,  aber 
kaum  vollendeteren  Gemälde  in  der  Sammlung  De  Strada"-).  Sie 
gehören  zu  den  merkwürdigsten  Heiligenbildern,  Die  Wärme 
der  Empfindung  kommt  der  Wucht  eines  Primitiven  gleich.  Die 
Verbindung  der  italienischen  Pose  mit  nordischer  Malerei  dürfte 
selten  wieder  so  vollkommen  geglückt  sein. 

Aber  diese  Ausnahmen  bestätigen  die  Regel.  Den  Mann 
ließ  er  Millet.  Selbst  wo  Millet  die  Frau  malt,  gibt  er  das 
Männliche  an  ihr,  die  Arbeitsgefährtin  des  Mannes.  Corot  da? 
gegen  weiht  sich  dem  anderen  Geschlecht,  und  wo  er  Männer 
malt,  begnügt  er  sich,  schöne  Bilder  zu  geben.  Schon  während 
seines  ersten  Aufenthalts  in  Rom  entstanden  zahllose  Frauen  aus 
dem  Volk  neben  sehr  wenigen  Männern.  Er  malte  sie  zuerst 
wie  die  gleichzeitige  Landschaft  mit  denkbar  größter  Sachlich:^ 
keit,  achtete  auf  das  Kostüm  und  benutzte  es  zu  koloristischen 
Effekten.  Nachher  in  Paris  zeichnete  er  alle  hübschen  Mo? 
distinnen,  die  ihm  in  den  Weg  kamen,  und  fand  aus  hundert 
zärtlichen  Gesten  seinen  Typ,  das  Mädchen,  dessen  Gesicht  man 
nicht  genau  im  Gedächtnis  hat,  von  dessen  Körper  man  kaum 
ein  paar  Linien  ahnt,  von  dem  man  kaum  etwas  anderes  weiß, 
als    daß    man,    als   sie  vorüberging,    das   Glück  in   den   Augen 


^)  Dahin  gehören  der  Hallebardier  der  Sammlung  Dieulafoy  und  der 
merkwürdige  Ritter  bei  Cheramy  etc.  (L'oeuvre  de  Corot,  Robaut^Moreau* 
Nelaton  Nr.   1509-1511). 

^)  L'oeuvre  de  Corot  Nr.  1034  u.  1035,  nicht  zu  verwechseln  mit  dem 
großen  Gemälde  S.  Sebastien  secouru  par  les  saintes  femmes  (L'oeuvre  de 
Corot  Nr.  1063),   das  sich   in   der  Sammlung  Walters  in  Baltimore  befindet. 

37 


hatte  —  eine  Nymphe.  Wie  CoUin  von  ihm  sagte,  malte  er 
nicht  die  Natur,  sondern  seine  Liebe  zu  ihr,  und  so  malte  er 
zumal  die  Natur,  die  sich  ihm  in  der  Frau  darbot  und  die  viel 
mehr  im  Zentrum  seines  Schaffens  stand,  als  irgend  etwas  an^ 
deres.  Aber  der  Satz  gilt  auch  im  weiteren  Umfang.  Weniger 
die  Dinge  auf  seinen  Bildern,  was  sie  auch  sein  mögen,  be^ 
zaubern,  als  der  Ton,  der  sie  umgibt,  das  eigentümliche  Sphären^ 
hafte  der  Handlung.  Die  Gewinnung  des  Tons  ist  das  A  und 
Q  seiner  Geschichte.  Er  brachte  sie  auf  seiner  dritten  italie:« 
nischen  Reise  ein  entscheidendes  Stück  voran.  1843  war  er 
wieder  in  Rom.  Was  er  damals  als  Landschafter  gewann,  wer^ 
den  wir  später  untersuchen.  Man  geht  kaum  fehl,  die  Land^ 
Schaft  als  intermittierendes  Element  in  Corot  aufzufassen,  das 
zu  gewissen  Zeitperioden  in  den  Vordergrund  rückt,  aber  auch 
dann  durchaus  nicht  den  Maler  vollkommen  absorbiert.  Wir 
kommen  seinem  eigentlichen,  viel  umfassenden  Wesen  näher, 
wenn  wir  zunächst  alle  anderen  Seiten  deutlich  zu  machen  ver^ 
suchen  und  zumal  die  Ausbildung  des  Figürlichen  im  Auge 
behalten,  die  den  Fortschritt  des  Malers  gleichsam  personifiziert. 

In  Rom  studierte  er  die  Frau  nicht  mehr,  wie  15  Jahre 
vorher,  als  Selbstzweck,  sondern  als  Stilelement  des  künftigen 
Bildes.  Ingres,  der  bis  1841  die  französische  Akademie  in  Rom 
geleitet  hatte,  übte  damals  auch  auf  Corot  einen  sozusagen 
lokalisierten,  aber  nicht  unwesentlichen  Einfluß  aus.  Im  Salon 
des  Jahres  1843  stellte  Corot  eine  liegende  Odaliske  aus,  der 
das  berühmte  Louvrebild  Ingres'  als  ideales  Vorbild  gedient  hatte. 

Das  Bild,  heute  in  der  Sammlung  Hazard,  umfaßt  nicht 
ein  Drittel  der  Ingresschen  Odaliske.  Es  ist  auch  ärmer  an 
Pracht,  ohne  die  aufs  äußerste  abgewogene  Reinheit  der  Ara^ 
beske.  Dafür  wirkt  es  fleischiger,  menschlicher,  tatsächlicher 
und  zeigt  schon  den  Weg,  auf  dem  es  Corot  gelingen  sollte, 
den  großen  Klassizisten  zu  übertreffen.  Ingres'  glänzende  Gestalt 
vereinigt  alle  Pracht  der  Modellierung  und  des  Umrisses.  Aber 
sie  atmet  nicht.  Irgendwo  meldet  sich  in  der  Seele  selbst  des 
begeistertsten  Betrachters  die  Wahrnehmung,  daß  diesem  Reich*= 
tum  etwas  mangele,  etwas,  das  nichts  mit  den  Details,  mit  der 
Linie  oder  der  Modellierung  zu  tun  hat,  das  der  Art  dieser 
ganzen  Kunst  fehlt  und  ihr  fehlen  muß.    Es  ist  der  alte  Untere 

38 


Eine  Braut.     1845. 

0,32x0,24.     (Moreau.Nelaton  458  bis) 

Paris,  Louvre. 

Photo  Durand'Rucl,  Paris. 


39 


schied  zwischen  der  Arabeske  eines  Quattrocentisten  und  der 
Malerei  eines  Rembrandt.  So  geschmeidig  dient  bei  Ingres  die 
Linie  dem  räumHchen  Reiz,  daß  man  vergißt,  eine  höchst  be^ 
rechnete,  schematische  Wirkung  vor  sich  zu  haben.  Nur  wenn 
man  einen  Künstler  von  der  anderen  Seite  daneben  hält,  merkt 
man,  wodurch  der  natürliche  Instinkt  des  Malers  diese  Ge^ 
staltung  übertrifft.  Corot  —  wie  später  Renoir  —  wollte  das 
Maximum  einer  Komposition  behalten,  aber  nicht  auf  den  Lebens^ 
nerv  des  Malers,  die  Wirkung  durch  die  Teilung  der  Malfläche, 
verzichten.  Die  Gestalten  Ingres'  sind  schöner  als  alle  Corots, 
aber  sie  sind  ewig  für  sich  allein,  ohne  Licht  und  Luft,  glän^ 
zende  Gegenstände.  Darauf  kam  es  Corot  an,  diese  schönen 
Toten  zu  beleben.  Das  erwähnte  Bild  ist  nicht  die  erste  seiner 
Odalisken.  Gallimard  besitzt  ein  Bildchen  desselben  Umfanges 
mit  einer  ,, Nymphe  de  la  Seine"  ^),  das  1837  datiert  ist  und 
den  Anfang  dieser  glänzenden  Serie  darstellt.  Schon  hier  merkt 
man  eine  Wirkung  ins  Weite,  in  die  Luft,  die  aller  echten 
Malerei  Geheimnis  ist.  Ingres  suchte  alles  in  dem  einen  Körper 
zu  konzentrieren  und  umgab  ihn  mit  anderen  schönen  Formen. 
Corot  suchte  die  Vermittelung  der  Materie  mit  dem  Räume,  nicht 
nur  die  Linienvermittelung,  sondern  machte  aus  dem  Ganzen  eine 
fortlebende  Atmosphäre.  Bis  in  die  siebziger  Jahre  reicht  die 
aufsteigende  Entwickelung  seiner  Odalisken;  keine  Ausbildung 
des  Typs,  sondern  der  Malerei.  Ungefähr  gleichzeitig  mit  der 
liegenden  Figur  der  Sammlung  Hazard")  mag  das  winzige  Bild 
mit  der  liegenden  Nymphe  bei  Katargy'O  entstanden  sein,  eine 
ganz  schlanke,  sich  kaum  über  den  Boden  erhebende  Linie.  In 
den  fünfziger  Jahren  wächst  der  Körper  zu  breiteren,  mächtigeren 
Formen.  Man  kann  das  Wortspiel  wörtlich  nehmen.  Die  nackten 
Figuren  dieser  Zeit  haben  immer  noch  etwas  von  der  Linkisch* 
keit  im  Wachstum  begriffener  Mädchen;  so  die  kleine  Odaliske 
im  Musee  Rath  in  Genf^),  oder  die  hier  abgebildete  Nymphe 
mit  dem  Amor'')-      Und   man   glaubt  wahrzunehmen,    wie   das 


*)  L'oeuvre  de  Corot,  RobautsMorcau^Nelaton  Nr.  379. 

'^)  L'oeuvre  de  Corot,  Robaut^'VloreausNelaton  Nr.  45S,  aus  1S43. 

^)  L'oeuvre  de  Corot,  Robaut^MoreausNelaton  Nr.  540. 

^)  L'oeuvre  de  Corot,  Robaut;Moreau=NeIaton  Nr.  1046. 

^)  L'oeuvre  de  Corot,  Robaut.-Moreau^NeLiton  Nr.  103 L    Abb.  S.  46. 

41 


Wachstum  vorwärts  schreitet,  immer  größere  Reize  entfaltend. 
Die  Formen  runden  sich,  die  GHeder  lernen  die  Bewegung,  das 
Fleisch  scheint  sich  elastisch  zu  dehnen,  und  schließlich  tritt  die 
vollendete  Schönheit  unter  die  Menge.  Es  war  1859,  als  die 
,, Toilette'*  im  Salon  erschien^).  Fast  könnte  man  meinen,  Corot 
sei  sich  der  Zukunft  bewußt  gewesen,  als  er  zu  Beginn  der 
reifsten  Schöpfungen,  die  er  der  Frau  widmet,  mit  zarter  Früh# 
lingsstimmung  ein  junges  Weib  umgab,  das  zum  Feste  geschmückt 
wird.  Die  Toilette  geht  im  Freien  vor  sich,  zwischen  Birken, 
am  Rande  eines  winzigen  Weihers.  Vorsichtig  legt  die  Dienerin 
der  nackten  Schönheit  den  Putz  ins  Haar,  und  diese  hilft  mit 
zum  Kopf  gehobenen  Händen  und  träumt  dabei,  man  denkt 
an  Chasseriau's  sinnende  Gestalten.  Die  Pose  ist  göttlich.  Die 
Dienerin  steht  so  nahe  wie  möglich  und  läßt  nur  die  Rücken*» 
linie  der  vor  ihr  Sitzenden  vor  der  freien  Luft.  Der  ganze 
Reichtum  des  vorderen  Profils  wird  durch  das  Kleid  der  Dienerin 
zusammengehalten,  deren  einfacher  Umriß  die  Gruppe  nach  der 
anderen  Seite  abschließt,  so  daß  das  Äußere  der  Gruppe  vor 
der  freien  Luft  eine  geschlossene  ganz  ruhige  Linie  bildet,  wähs» 
rend  sich  im  Inneren  die  Bewegung  zur  größten  Wirkung  enU 
faltet  und  die  sehr  weit  vorspringende  Stellung  der  Kniee  erlaubt. 
Dadurch  entsteht  im  Beschauer  das  Bewußtsein  der  Geschützte 
heit  des  Nackten,  die  Vermischung  von  lechzender  Freude  an 
der  Form  mit  dem  Genuß  an  der  Intimität.  Das  schöne  Ver^* 
hältnis  der  Gruppe  zur  Höhe,  das  glückliche  Format  und  vor 
allem  die  echt  Corotsche  Malerei  tragen  das  ihrige  dazu  bei.  Die 
Farbe  begnügt  sich  mit  dem  Akzent  des  Pinsels  und  den  Diifes« 
renzen  der  Modellierung.  Den  einzigen  starken  Ton  bringt  das 
Gelb  in  dem  Kleid  der  Dienerin,  die  überhaupt  stofflicher,  ve^ 
hementer  gemalt  ist,  um  die  leise  sprühende  Fläche  des  nackten 
Fleisches  im  Gleichgewicht  zu  halten.  Das  Sprühen  teilt  sich 
dem  ganzen  Bilde  mit,  es  scheint  in  der  Atmosphäre  zu  liegen, 
die  Gruppe  und  Landschaft  mit  warmem  Leben  füllt.  An  einem 
der    schlanken    Bäume     des    Hintergrundes    lehnt    lesend    eine 


^)  L'oEuvre  de  Corot,  RobautsMoreau*Nelaton  Nr.  1108.      S.    43    abge# 
bildet,  leider  nach  einer  mäßigen  Vorlage. 

42 


Die  Toilette.     1859. 

1,40x0,80.     (Moreau.Nelaton   1108.) 

Sammlung  Mme.  Desfosses,  Paris. 

43 


Gefährtin,  um  achtzugeben,  daß  niemand  stört,  oder  um  den 
Geliebten  zu  melden,  der  die  Braut  umfangen  soll. 

Es  ist  schwierig,  aus  der  Analyse  Corots  einen  Begriff  aus^ 
zuscheiden,  mit  dem  so  viel  Unfug  getrieben  wurde,  daß  man 
ihn  ungern  verwendet.  Man  riskiert  falsche  Vorstellungen  wach^ 
zurufen,  wenn  man  Corot  keusch  nennt;  denn  einmal  deckt  sich 
das,  was  keusch  an  ihm  berührt,  nicht  mit  dem  gewohnten  Ab^ 
stinenzlerbegriff,  und  dann  gerät  man  in  die  Gefahr,  mit  den 
Moralästhetikern  zu  kollidieren,  die  aus  ihrer  Auffassung  von 
dieser  Tugend  ein  Kriterium  der  Kunst  gemacht  und  die  Mensch^ 
heit  damit  lange  genug  gelangweilt  haben.  Die  Keuschheit,  die 
aus  Gehorsam  vor  Mama  und  Papa  und  der  Tante  Sitte  ent^ 
springt,  kommt  hier  so  wenig  in  Frage  wie  das  Gegenteil.  Weder 
die  Negierung  noch  die  Betonung  des  Geschlechtlichen  findet 
sich  bei  Corot,  sondern  jene  höhere  Tugend,  die  von  dem  Sinn^ 
liehen  zuerst  das  Schöne  verlangt,  bevor  sie  untersucht,  ob  es 
moralisch  ist:  die  Reinheit  des  wohlgestaltet  Geborenen.  Sie 
fällt  nicht,  weil  sie  nie  in  die  Lage  kommt,  zu  straucheln,  weil 
sie  die  Welt  von  lichteren  Höhen  sieht  als  der  Begierde,  die 
nach  Stillung  dürstet.  Das  erquickt  in  Corot.  Er  vermeidet 
nicht  den  süßen  Reiz  des  Liebeslebens,  aber  gibt  davon  nur 
die  Glückstimmung,  ein  Paradies,  dem  die  Reue  fern  bleibt, 
weil  alles  Glück  im  Tanz  genossen  wird,  im  holden  Reim  ge^ 
mäßigter  Bewegung.  Das  gilt  von  seiner  Komposition,  von 
seiner  glücklichen  Neigung,  die  Sehnsucht  in  Reigen  zu  kleiden. 
Diese  frohsinnige  Keuschheit  kommt  aber  auch  ganz  instinktiv 
in  seiner  Art,  das  Einzelne  zu  gestalten,  zum  Vorschein,  in 
seinem  Strich,  seiner  Handschrift.  Sie  macht  das  lockere  Gewebe 
der  Malerei,  die  Zurückhaltung  in  der  Materie,  das  unbewußt 
Zögernde  in  der  Entschleierung  des  Reizes,  das  unendlich  Ver*» 
wobene.  Unausgesprochene,  das  uns,  ohne  daß  wir  es  merken, 
in  die  Jugend  versetzt,  als  man  ohne  Grund  lachte  und  weinte 
und  die  Welt  wie  ein  duftiges  Netz  voll  Perlen  und  Edelsteine 
vor  sich  sah. 

Corots  Keuschheit  ruht  in  dem  Märchenhaften,  mit  dem  er 
die  Liebe  umgab.  Er  idealisierte  sie  auf  glaubhafte  Weise,  ins= 
dem  er  das  Symbol  in  die  Atmosphäre  legte.  Neben  der  „Toilette" 
hing   im    selben   Salon    von    1859   eine   der  gewohnten   Idyllen: 

45 


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Nymphe,  Amor  rufend.     1850—55. 

0,27x0,47.     (Moreau.Nelaton  1031.) 

Gehörte  1890  Durand^Ruel,  Paris. 

Photo  DurandsRuel,  Paris. 


„Cache  Cache",  in  der  dieselbe  Atmosphäre  zum  Träger  reizen? 
der  Spiele  wurde  ^),  Umgeben  von  diesem  duftigen  Zauber,  er? 
blühten  Corots  Frauen  in  den  sechziger  Jahren  zu  strahlender 
Schönheit.  1865,  im  selben  Jahre  als  ein  anderer  Kunstheros 
der  Zeit  sein  Ideal  verdichtete,  als  Manets  Olympia  erschien, 
zeigte  Corot  die  Nymphe  auf  dem  Tigerfell")  und  die  Nymphe 
couchee  au  bord  de  la  mer,^)  die  letzte  Konsequenz  der  fast 
dreißig  Jahre  vorher  zum  erstenmal  geschaffenen  Figur.  Unter 
diesen  vielen  Odaliskenbildern  ragt  eins  hervor  aus  etwas  früherer 
Zeit,  das  im  ganzen  Werke  Corots  wohl  am  meisten  überrascht 
und  allein  genügte,  ihn  unsterblich  zu  machen.  Es  ist  die 
Bacchantin  mit  dem  Panther^).     Panther?Idyll  wäre  der  richtige 


^)  L'oeuvre  de  Corot,  RobautsMoreausNelaton,  Nr.  1110,  im  Museum 
von  Lille. 

2)  L'oeuvre  de  Corot  Nr.  1377. 

^)  L'oeuvre  de  Corot  Nr.  1376. 

*)  L'oeuvre  de  Corot  Nr.,  1276,  abgebildet  in  „Kunst  u.  Künstler" 
(B.  Cassirer  III,  3).  Aus  derselben  Zeit  (1855-60)  die  herrliche  Bacchante 
au  Tambourin  (L'oeuvre  de  Corot  Nr.  1377). 

46 


Name,  denn  diesmal  hat  die  ruhende  Frauengestalt  in  einem 
Panther  den  Gespielen  gefunden.  Man  denke  nicht  an  die  Vier? 
füßler  Decamps',  nicht  an  Delacroix'  blutdürstige  Bestie,  nicht 
an  die  schleichenden  Katzen,  die  Barye  in  die  seltenen  Farben 
seiner  Pastelle  bannte.  Corot  läßt  ein  nacktes  Kind  auf  seinem 
Panther  reiten^).  Ich  glaube  nicht,  daß  er  ihn  nach  der  Natur 
malte,  obwohl  das  Fell  wunderbar  wirkt.  Eher  fand  er  ihn  in 
jener  schöneren  Welt,  wo  auch  Tizian  ihn  sah,  paarweise  vor 
dem  Triumphwagen  des  Bacchus,  als  der  siegreiche  Gott  zu 
Ariadne  entflammte;  da  wo  Poussin  ihn  wiederfand,  in  demselben 
dionysischen  Kreise,  aus  dem  einst  schwärmende  Griechen  ihn 
in  leuchtende  Reliefs  entführt  hatten.  Die  Gruppe  nimmt  den 
Vordergrund  einer  traumhaft  angedeuteten  Landschaft  ein  und 
füllt  fast  das  ganze  lange  Format.  Panther  und  Nymphe  sind 
fast  in  einer  Ebene,  beide  ganz  im  Profil,  so  daß  das  Gegen? 
spiel  der  langgestreckten  nackten  Frauenglieder  und  des  schweren 
Tieres  ganz  ausklingt.  Die  ausgestreckte  Hand  der  Nymphe 
hält  in  den  Fingerspitzen  dem  Panther  einen  toten  Vogel  als  Lock? 
speise  hin.  Die  Kurve  dieses  Armes,  gleichsam  aufgefangen  von 
dem  kleinen  rundlichen  Reiter,  scheint  dem  Schönen  die  ge? 
heimsten  Reize  zu  entlocken. 

Damals  war  es  mit  der  Alleinherrschaft  Ingres'  aus.  1864 
bekam  Corot  bei  der  Wahl  zum  Juror  des  Salons  fast  die 
doppelte  Anzahl  Stimmen.  Und  doch  siegte  etwas  von  Ingres 
in  diesem  fernstehenden  Zeitgenossen  des  grollenden  Löwen. 
Ein  Stück  der  göttlichen  Form,  der  Ingres  sein  Leben  geweiht 
hatte,  zu  kostbar,  um  der  stürmischen  Zukunft  zum  Opfer  zu 
fallen,  wurde  von  Corot  mit  zauberischen  Gewändern  eingehüllt 
und  auf  unantastbare  Flöhen  getragen. 

Man  begreift,  daß  Manet  dem  Meister  fernblieb.  Der 
Stürmer  gegen  die  Modellierung,  das  notwendigste  Mittel  der 
Alten,  konnte  ihm  nicht  verständlich  werden;  und  daß  Courbet 
ihm  näher  kam,  lag  in  dem  anderen  Standpunkt,  den  dieser  in 
derselben  Frage  einnahm,  und  in  der  Meisterschaft,  mit  der  er 
darauf   beharrte.      Sonst   gab    es   nichts,    das   den  Figurenmaler 

*)  Dasselbe  Kind  auf  dem  Panther  findet  sich  in  einer  merkwürdigen 
Waldidylle  der  Sammlung  Brun,  wo  tanzende  Nymphen  mit  dem  Reiter 
spielen.     Dieses  Bild  fehlt  wie  manches  andere  im  Oeuvre  de  Corot. 

47 


Corot  mit  den  anderen  verband  —  wenn  nicht,  daß  er  eben 
nicht  bloß  Figurenmaler  war.  Er  hatte  andere  Pairs  vor  Augen, 
träumte  noch,  als  die  anderen  dekretierten,  dichtete  noch,  als 
Courbet  behauptete,  Poesie  sei  eine  Gemeinheit.  Nicht  Hals 
und  Goya,  die  vor  seinen  Blicken  in  Frankreich  einzogen,  störten 
seine  Idylle.  Was  diese  der  Jugend  gaben,  fand  er  immer  wieder 
im  Lande  seiner  Träume,  wo  Giorgione  und  Correggio  gelebt 
hatten.  Poussin  dehnte  seine  Form,  aber  blieb  ihm  Verhältnis^* 
mäßig  fremd.  Seiner  Schüchternheit  verschloß  sich  die  Pracht 
der  Bacchanalien.  Giorgione  dagegen  liebte  er  so,  wie  Poussin 
Tizian  verehrte.  Er  suchte  dem  nackten  Körper  in  der  Lands 
Schaft  die  Wärme  des  ,,Concert  champetre*'  zu  geben.  Ohne 
dieselben  Farben,  die  seiner  Palette  nicht  lagen,  ohne  die  Pracht, 
an  die  er  nicht  heranreicht,  aber  mit  derselben  unendlich  menschst 
liehen  die  Form  durchdringenden  Empfindung,  die  Giorgione 
über  die  prunkenderen  Nachfolger  stellt.  Diese  Empfindung 
kommt  bei  Corot  aus  einem  viel  weniger  ernsten  Temperament. 
Mit  ihrer  Aufrichtigkeit  vertrug  sich  das  Lächeln,  ja  die  Aus:» 
gelassenheit,  und  diese  frohe  Laune  fand  in  Correggio  einen 
idealen  Gefährten.  Nächst  Prud'hon,  den  man  den  französischen 
Correggio  nennt,  ist  niemand  —  auch  nicht  Diaz,  der  es  zuweilen 
darauf  anlegte  —  dem  Maler  der  Leda  näher  gekommen  als 
Corot.  Er  betrachtete  ihn  von  einer  ganz  anderen  Seite  als 
Prud'hon  und  Diaz.  Prud'hon  kannte  kein  schöneres  Ziel  als 
sich  mit  dem  geliebten  Meister  zu  identifizieren,  wobei  ihm  die 
Aufgabe,  eins  der  verstümmelten  Gemälde  zu  ergänzen,  entgegen^: 
kam.  Er  adoptierte  dasselbe  Format,  vergrößerte  den  indivi^ 
duellen  Schwung  der  Antiope,  summierte  in  schönen  Einzel* 
figuren  die  Anregung.  Man  weiß,  wieviel  von  Eigenem  dazu 
kam.  Diaz  wiederum  rückte  mit  seiner  Schwärmerei  für  die 
Italiener  den  Vorbildern  zuweilen  so  nahe  auf  den  Leib,  daß 
seine  kostbaren  Idyllen  mit  einer  fremden  Empfindungswelt 
kollidieren.  Corot  dagegen  träumte  vor  Correggio  wie  vor  der 
Natur.  Er  betrachtete  aus  viel  größerer  Entfernung,  wo  der 
präzise  Umriß  der  Körper  sich  verlor  und  behielt  nur  etwas 
von  der  Gemeinsamkeit  vieler  Gesten.  Man  glaubt  in  manchen 
seiner  Nymphentänze  die  Berliner  Ledagruppe  unendlich  ver* 
vielfacht  und  um  ebensoviel  verkleinert  wiederzufinden.    Szene, 

48 


Handzeichnung. 
Photo  Druet.  Paris. 


49 


Atmosphäre,  die  ganze  Mache  des  Bildes,  ist  noch  weiter  von 
Correggio  entfernt,  als  Delacroix  von  Rubens.  Aber  durch  alle 
Verschiedenheit  klingt  die  Stammverwandtschaft  hindurch  und 
weckt  in  uns  dieselbe  wohltuende  Empfindung,  wie  wenn  wir 
in  unserm  Spiegelbild  die  Spuren  verehrter  Ahnen  finden. 

Corot  verklärte  Correggio.  Er  goß  einen  weiteren,  luftigeren 
Raum  um  das  Sensuelle  der  Leda,  erinnerte  sich  an  noch  süßere 
Märchen,  ging,  ohne  den  Meister  aus  den  Augen  zu  verlieren, 
in  fernere,  erhabenere  Zeiten  zurück,  als  die  Vorbilder  noch  leib^^ 
haftig  auf  Erden  wandelten  und  Virgil  die  Oden  diktierten.  Das 
Keusche,  das  hier  gemeint  wurde,  ist  der  antike  Geist,  der  ihn 
von  Correggio  trennt.  Ob  es  wahr  ist,  daß  er,  wie  manche 
Biographen  berichten,  auf  seine  alten  Tage  noch  griechisch  lernte, 
um  Theokrit  in  der  Ursprache  zu  lesen,  bleibt  dahingestellt. 
Sicher  ist,  daß  er  zu  den  Griechen  in  intimere  Beziehungen  ges= 
langte,  als  seinen  Zeitgenossen  gegönnt  war.  Und  gerade  da^^ 
durch  erscheint  uns  seine  Rolle  unendlich  wertvoll.  Wir  sahen 
früher,  wie  der  Klassizismus  des  Kreises  um  Joseph  Vernet  von 
David  zu  dem  Pseudo^Römischen  verzerrt  wurde.  Prud'hon 
erhob  sich  dagegen  mit  sanfter  Gewalt.  Weniger  seine  großen 
Gemälde  als  seine  köstlichen  Zeichnungen  in  Chantilly,  im  Louvre 
usw.  zeigen  den  Reflex  einer  freieren  Kunst,  eines  erhabeneren 
Schattens,  deuten  auf  den  Geist,  der  sich  nicht  mit  dem  massiven 
Körper  der  römischen  Antike  verband,  auf  Hellas.  Corot  wagte 
in  diesem  Geiste  zu  malen  und  verbannte  noch  entschiedener 
als  Prud'hon  alle  Erinnerung  an  das  alte  Rom,  um  sich  desto 
inniger  einem  idealen  Hellas  zu  erschließen.  Er  ersah  dieses 
Vorbild  nicht  aus  den  Skulpturen  der  Alten.  David  hätte  ihn 
noch  weniger  für  seinesgleichen  anerkannt,  als  Prud'hon.  Corot 
erträumte  sein  Vorbild.  Er  malte  Landschaften  —  das  Genre, 
das  die  Schule  Davids  für  unzulässig  und  gemein  erklärte  — 
nahm  sie  aus  der  Umgegend  von  Paris  und  malte  sie  in 
griechischem  Geiste.  Er  ließ  statt  der  Ruinen  Hubert  Roberts 
kleine  nackte  Mädchen  darin  spielen,  die  uns  heute  schon  klassisch 
erscheinen.  Vor  fünfzig  Jahren  hätte  man  den  Vergleich  frevel^^ 
haft  genannt.  Er  tat,  was  in  ihrer  Art  den  beiden  größten 
französischen  Klassikern  der  Vergangenheit,  Poussin  und  Claude, 
auf  gleich  natürliche  Weise  gelang.    In  seiner  Salonbesprechung 

50 


51 


des  Jahres  1857  schrieb  About,  daß  Corot  Dinge  in  der  Natur 
gesehen,  die  den  beiden  großen  Meistern  des  XVII.  Jahrhunderts 
entgangen  wären ^).  Unrecht  wäre,  wollte  man  deshalb  den  Spät^: 
geborenen  über  seine  Vorgänger  stellen.  Poussin  und  Claude 
waren  für  ihre  Zeit  genau  das,  was  Corot  für  die  seine  wurde, 
und  dieser  hätte,  was  er  war,  nicht  werden  können,  hätten  nicht 
die  beiden  vorher  den  Pfad,  auf  dem  er  wandeln  sollte,  mit 
unsterblichen  Rosen  bekränzt.  Schon  diese  beiden  durchdrangen 
die  Dinge  der  Alten  mit  neuem  Geist,  übergaben  dem  Lichte 
des  Bildes  die  Geste,  die  vorher  der  scharf  gezirkelte  Umriß  ge^ 
spielt  hatte,  vollendeten  die  Erfindung  der  Tizian  und  Veronese. 
Das  XVIII.  Jahrhundert  besann  sich  langsam  auf  diese  Tradition. 
Corot  besann  sich  nicht  nur,  sondern  wirkte  weiter,  ging 
ein  so  bedeutendes  Stück  auf  der  alten  Bahn  weiter,  daß 
man  fast  die  vorher  vorhandene  Bahn  übersieht.  Man  kann 
ihn  natürlicher  nennen  als  seine  Vorgänger,  ohne  damit  einen 
Vorwurf  gegen  Poussin  und  Claude  auszusprechen;  natürlicher, 
weil  die  ganze  Welt  so  geworden  ist.  Nicht  weniger  Poet,  nicht 
weniger  klassisch;  und  das  ist  heute  ein  seltener  Ruhmestitel. 
Daß  sich  in  die  schmetternden  Fanfaren  der  neuen  Kunst  diese 
zarten  Lieder  mischten,  hat  vielen  Herzen  wohlgetan. 


^)  Nos  artistes  au  Salon  de  1857. 


53 


Die  Flucht  aus  Sodom.     1857. 

0,80x1,50.     (Moreau.Nelaton  1097.) 

Legs  Cammondo,  Louvre,  Paris. 

Photo  DurandsRuel,  Paris. 


Der  Romantiker 

Jenen  Salon  von  1857,  von  dem  About  berichtete,  hatte 
Corot  mit  sieben  Bildern  beschickt,  darunter  fünf  Meisterwerken, 
die  dem  Sechzigjährigen  die  endgültige  Anerkennung  auch  des 
Publikums  brachten.  Das  erste,  das  ,,Concert  Champetre",  das 
Dupre  besaß,  und  nach  dessen  Tode  vom  Duc  d'Aumale  für 
Chantilly  erworben  wurde,  war  ein  altes  Gemälde,  das  schon 
auf  dem  Salon  von  1844  figuriert  hatte,  aber  jetzt,  vereinfacht 
und  verbessert,  dieselbe  Welt  entzückte,  die  damals  achtlos  an 
ihm  vorbeigegangen  war^).  Dann  die ,, Feuersbrunst  von  Sodom", 
ebenfalls  schon  in  veränderter  Form  auf  dem  Salon  von  1844^), 
dann    die    ,,Ronde    de    Nymphes"'^),    endlich    eine    ,, Hirtin    am 


^)  L'oeuvre  de  Corot,  Robaut*Moreau;Nelaton  Nr.  1098. 
'^)  L'oeuvre   de   Corot,    RobautsMoreausNelaton   Nr.    1097.      Die    erste 
Fassung  aus  1843  S.  Nr.  460    unter  dem  Titel  ,.  La  Destruction  de  Sodom". 
^)  L'oeuvre  de  Corot,  Robaut=Moreau?Nelaton  Nr.   1072. 


54 


Waldessaum",  bei  untergehender  Sonne').  Damals  schrieb  Theo^ 
phile  Gautier,  der  schon  1839  den  Maler  besungen  hatte,  von 
den  „Verdures  Elyseens"  und  den  „Ciels  Crepusculaires".  Nach 
diesem  Vokabularium  hätte  man  fast  glauben  können,  daß  es 
sich  um  einen  Genossen  Delacroix'  handelte.  Die  Erinnerung 
an  den  Maler  der  „Dantebarke"  widersetzt  sich  dem  Corotschen 
Geiste,  wie  wir  ihn  zu  erkennen  versucht  haben.  Die  Romantik 
des  einen  hat  mit  der  griechisch  anmutenden  Poesie  des  anderen 
gar  nichts  gemein.  Sie  stehen  sich  wie  Gegensätze,  fast  wie 
fremde  Welten  gegenüber.  Dort  der  flammende  Kolorist,  der 
kühne  Dramatiker,  das  gärende  Temperament;  hier  der  Lieder? 
sänger,  der  seine  Pastorale  in  zarten  Ton  hüllt.  Aber  in  der 
Kunst  sind  große  Persönlichkeiten  zu  reich,  um  in  so  frappanten 
Gegensätzen  aufzugehen.  Am  wenigsten  lassen  sie  sich  erschöpf» 
fend  auf  den  groben  Temperamentsmaßstab  zurückführen,  nach 
dem  man  den  Alltagsmenschen  einteilt.  Ihre  Sanftmut  hat  Ab? 
gründe,  ihre  Leidenschaft  hat  friedliche  Oasen,  und  man  kennt 
sie  schlecht,  wenn  man  diese  Widersprüche  außer  acht  läßt,  die 
ihr  Wesen  ergänzen.  Eine  solche  Nuance  ist  in  Corot  das,  was 
man  romantisch  im  Geiste  Delacroix'  in  seinen  Werken  findet. 
In  dem  ,, Christ  au  jardin  des  Oliviers"  vom  Jahre  1849'-)  ruht 
wie  unter  Schleiern  das  berühmte  Gemälde  gleichen  Namens 
von  Delacroix,  umgedacht  durch  eine  friedlichere  Seele.  In  der 
erwähnten  „Feuersbrunst  von  Sodom"  ist  der  Einfluß  deutlich. 
Als  Corot  1843  das  Bild  zum  erstenmal  malte,  stand  er  Dela? 
croix  vollkommen  fremd  gegenüber  und  gab,  soweit  man  nach 
der  Abbildung  der  Zeit  schätzen  kann,  eine  klassische  Kom? 
Position  im  Geiste  der  Hagar.  Vierzehn  Jahre  später  übermalte 
Corot  das  Bild  vollständig,  modifizierte  das  Format  und  gab 
der  Komposition  die  dramatische  einheitliche  Form,  die  wie  eine 
rührende  Selbstverleugnung  der  Idylle  erscheint.  Kurz  vorher 
war  der  hl.  Sebastian  entstanden,  von  dem  wir  schon  sprachen, 
in   dessen  Malerei  —  zumal   in   der  Skizze  —  die   eigentümliche 


')  L'oeuvrc  de  Corot,  Robaut^Moreau^Nelaton  Nr.   1069. 

-)  L'oeuvre  de  Corot,  Robaut^Moreau^Nelaton  Nr.  610.  Museum  von 
Langres.  Nicht  zu  verwechseln  mit  dem  späteren  Bild  gleichen  Titels,  das 
er  als  Freske  in  die  Kirche  von  Ville  d'Avray  malte  (Nr.  1076). 

55 


Schraffierung  Delacroixscher  Flecken  verwendet  ist.  In  dem 
„Dante  und  Virgil"  des  Jahres  1859  finden  sich  ähnHche  Be^^ 
Ziehungen^).  Am  deutHchsten  wird  der  Einfluß  in  dem  „Mac^ 
beth"  desselben  Jahres^).  Der  Besucher  der  Wallace  Collection, 
wo  man  so  viel  Überraschungen  in  der  französischen  Kunst  aus 
der  Zeit  der  Romantik  erlebt,  steht  einigermaßen  betroffen  vor 
dem  großen  Gemälde.  In  den  drei  Hexen  und  den  beiden 
Reitern  auf  den  erschreckten  Pferden  in  der  gespenstisch  leuch^ 
tenden  Landschaft  steckt  ein  großer  dramatischer  Schwung,  und 
man  würde  im  ersten  Moment  weniger  erstaunt  sein,  den  Namen 
Delacroix'  auf  der  Inschrift  zu  finden,  als  den  seines  wirklichen 
Autors.  Wie  groß  in  Wirklichkeit  der  Unterschied  zwischen 
beiden  ist,  belehrt  schon  der  Blick  auf  das  benachbarte  Bild, 
die  farbenprunkende  Hinrichtung  des  Dogen,  von  Delacroix. 
Der  Corot  wirkt  daneben  dunkel.  Er  gibt  seine  diskretere  Kunst 
nicht  auf,  aber  es  ist,  als  sei  in  das  stille  Leben  des  Lyrikers, 
als  er  das  Bild  malte,  ein  starkes  Ereignis  getreten  und  habe 
ihn,  der  sonst  zärtlichen  Hirtinnen  zu  lauschen  pflegte,  zu  mächs= 
tiger  Sprache  begeistert.  Der  Einfluß  ist  unleugbar.  Ob  er  auf 
ein  bestimmtes  Bild  Delacroix'  zurückgeht,  weiß  ich  nicht.  Es 
ist  nicht  unmöglich,  daß  Corot  die  Darstellung  desselben  Vor*= 
gangs  von  Chasseriau  gesehen  hat,  die  Delacroix  nahesteht'^). 
Als  er  1867  auf  der  Weltausstellung  den  „Macbeth"  wiederfand, 
konnte  er  sich  nicht  sarkastischer  Selbstironie  enthalten.  Auch 
in  anderen  weniger  spezifischen  Bildern  findet  man  dieselbe 
düstere  Romantik.  Das  Stedelijk  Museum  von  Amsterdam  be* 
herbergte  im  selben  Saale  mit  Delacroix'  grandioser  „Medea  auf 
der  Flucht"  die  „Contrebandiers"  Corots,  die  Nacht  im  düsteren 
Gebirgstal  mit  den  Pferden  der  Schmuggler '').  Auch  hier  scheint 
sich  ein  schwacher  Reflex  des  Malers  der  Medea  zu  melden. 

Die  beiden  Meister  lernten  sich  erst,  vermutlich  durch  ihren 
gemeinsamen  Freund  Dutilleux,  in  reifen  Jahren  kennen.     1847 


^)  L'oeuvre  de  Corot,  Nr.  1099,  Museum  von  Boston. 

-)  L'oeuvre  de  Corot,  Nr.   1109,   Wallace  Collection,  London. 

^)  Sammlung  des  Baron  Arthur  de  Chasseriau,  Paris. 

^)  Die  Medea  Delacroix'  und  die  Contrebandiers  Corots  versuchte  Tschudi 
vergeblich  für  die  Nationalgalerie  zu  gewinnen.  Sie  dürften  wohl  jetzt  end? 
gültig  in  die  Arnholdsche  Sammlung  in  Berlin  übergehen. 

56 


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kam  Delacroix  in  das  Atelier  Corots  und  schrieb  den  schönen 
Eindruck  nieder,  den  die  „Beautes  naives"  auf  ihn  gemacht 
hatten^).  Der  Ton  ist  der  Respekt,  in  dem  man  von  einem 
durchaus  gleichstehenden  Kollegen  spricht.  Am  selben  Tage, 
an  dem  sich  Delacroix  an  Corots  leichter  Art,  das  Leben  zu 
nehmen,  erfreut,  notiert  er  mit  der  bekannten  Sachlichkeit  die 
gewohnte  eigene  Melancholie,  die  ihn  auf  dem  Boulevard  be^: 
fallen  hatte.  Corot  seinerseits,  der  jeder  schnellen  Erkenntnis 
mangelte,  gelangte  mit  den  Jahren  zu  immer  größerer  Bewundes= 
rung  Delacroix'.  Er  teilte  mit  ihm  manche  Neigung,  zumal  die 
Verehrung  Correggios,  den  Delacroix  neben  Michelangelo  stellte, 
und  mag  für  den  Adel  der  Gesinnung,  der  aus  allen  Aspira* 
tionen  des  großen  Malers  und  des  Menschen  sprach,  bessere 
Organe  gehabt  haben  als  viele  Zeitgenossen.  Am  meisten  bes= 
wunderte  er  den  Monumentalkünstler,  den  Louvre^^Plafond  und 
die  großen  religiösen  Malereien,  und  möglicherweise  hat  ihn 
das  Vorbild  angeregt,  sich  auch  auf  diesem  Eelde  zu  versuchen. 
Corot  als  Monumentalmaler  ist  ein  wenig  gekanntes  Kapitel. 
Es  wäre  deplaciert,  wollte  man  ihm  diese  prätentiöse  Überschrift 
geben,  denn  Corots  größte  Kunst  ist  nicht  darin  enthalten.  Es 
bedeutet  mehr  eine  quantitative  Ausdehnung  seiner  reichen 
Tätigkeit,  als  eine  neue  Seite  seines  Wesens;  aber  dieses  Quantum 
umfaßt  zu  viel  schöne  Dinge,  als  daß  man  es  leichten  Herzens 
übergehen  könnte.  Sein  erster  Versuch  war  typisch  für  ihn. 
Wie  Robaut  erzählt"),  kam  Corot  eines  Tages,  Anfang  der 
vierziger  Jahre  nach  Mantes  zu  seinem  Freunde  Robert  und 
bemerkte,  daß  die  Anstreicher  gerade  dabei  waren,  das  Bade^^ 
zimmer  neu  zu  schmücken.  Ohne  viel  Umstände  bat  der  Künstler 
die  ,, geschätzten  Kollegen",  ihm  den  Platz  zu  überlassen.  Zu^^ 
fälligerweise  hatte  er  kein  Handwerkszeug  bei  sich.  Er  nahm 
die  Pinsel  und  die  Farben  der  Maler,  ergänzte  sie,  so  gut  sich 
das  beim  Farbenhändler  tun  ließ,  und  begab  sich  an  die  Arbeit. 


1)  Journal  de  Delacroix  vom  14.  März  1847,  I,  289. 

-)  In  der  Zeitschrift  L'Art  vom  7  Dezember  1879  mit  Abbildungen 
nach  Zeichnungen  Robauts.  Text  und  eine  der  Zeichnungen  figurieren  auch 
als  Appendix  zu  der  Rousseauschen  Studie  (im  selben  Verlag  1884).  Samt? 
liehe  Panneaux  sind  im  Corot^Werk,  Robaut^MoreausNelaton,  unter  Nr.  435 
bis  440  abgebildet 

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Die  Geschichte  erinnert  an  die  Improvisation,  die  Delacroix  bei 
Dumas  zum  besten  gab.  Der  Raum  war  sehr  eng  und  von 
üblen  Verhältnissen  wie  die  meisten  Badezimmer.  Corot  ließ 
sich  nicht  abschrecken,  sondern  bemalte  ohne  jede  Präparation 
die  sechs  Panneaux  dieses  Badezimmers  einer  Villa  im  Herzen 
Frankreichs  mit  ebensoviel  „Souvenirs  d'Italie**,  ohne  jeden  an* 
deren  Anhalt  an  das  Modell  als  seine  eigene  Natur  und  die 
Erinnerung  an  das  geliebte  Land.  Und  es  befindet  sich  min? 
destens  ein  Bild  darunter,  ein  langgestrecktes  Dessus^de^fenetre 
mit  einer  Ansicht  des  großen  Kanals  von  Venedig,  das  die 
Reise  nach  Mantes  bezahlt  macht. 

Sehr  viel  anmutiger  als  dieses  Badezimmer  muß  der  kleine 
Kiosk  im  Garten  des  Hauses  von  Ville  d'Avray  gewirkt  haben, 
den  Corot  1847  zum  Geburtstag  seiner  alten  Mutter  ausmalte, 
schon  weil  hier  für  eine  unendlich  feine  Zusammenstimmung  der 
einzelnen  Panneaux  gesorgt  wurde  und  das  Format  dem  Künstler 
entgegenkam.  Robaut  stellt  mit  Unrecht  diese  Dekoration  unter 
die  Salle  de  bains  von  Mantes,  weil  ihm  die  einzelnen  Land:* 
Schäften  nicht  genug  individualisiert  erscheinen^).  Der  Mangel 
war  in  Wirklichkeit  ein  Vorzug  des  Ensemble,  soweit  man  heute 
noch  urteilen  kann.  Das  eine  der  beiden  größten  Panneaux,  auf 
dem  das  Häuschen  selbst  gemalt  ist,  gehört  zu  den  reizendsten 
Schöpfungen  Corots.  Es  malt  die  Behaglichkeit,  die  hier  emp^^ 
funden  wurde.  Die  anderen  Bilder  ergänzen  und  erweitern  dieses 
Behagen.  Jede  stärkere  Betonung  hätte  die  Idylle  gestört.  Die 
Reinheit  der  warmen  Sommerstimmung  erhebt  sich  weit  über 
die  Improvisation  in  Mantes,  die,  so  gelungen  sie  war,  nicht  die 
wertvollste  Gabe  Corots  ungestört  zu  äußern  vermochte,  seinen 
Wohlklang. 

Kurz  vorher  hatte  er  die  „Taufe  Christi**  für  die  Kirche 
St.  Nicolas  du  Chardonnet  in  Paris  vollendet,  glücklicherweise 
nicht  auf  die  Wand,  sondern  auf  Leinwand  gemalt.  Es  ist  eins 
seiner  größten  Gemälde,  fast  vier  Meter  hoch  und  Corots  kost* 
barster  Beitrag  zu  der  Monumentalkunst  im  konventionellen 
Sinne.    Die  Handlung  steht  dem  Cinquecento  nahe  und  hält  sich 


^)  Robaut  ebenda.    In  L'oeuvre  de  Corot  Nr.  600  bis  607.    Die  Panneaux 
befinden  sich  heute  bei  Lemerre  in  Paris. 

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an  die  übliche  Pose;  aber  sie  verliert  als  solche  jede  wesentliche 
Bedeutung  in  dem  weichen  Schatten,  mit  dem  sie  Corot  umhüllt, 
und  wird  etwas  ganz  Neues  in  der  Landschaft,  in  der  sie  sich 
abspielt.  Man  begreift  vor  dieser  vollkommenen  Harmonie  die 
Begeisterung  Delacroix',  der  hier  einen  Genossen  erkannte.  Ver^ 
einfacht  kommt  dieselbe  Kunst  in  den  vier  Fresken  der  Kirche 
von  Ville  d'Avray  von  1855  wieder.  Hier  spielt  die  Landschaft 
nur  als  Ton  der  Hintergründe  mit,  dafür  sind  die  Szenen  selbst 
—  zumal  die  Vertreibung  aus  dem  Paradies  —  viel  persönlicher 
stilisiert.  Leider  ist  ihre  Lage  über  den  Fenstern  so  ungünstig, 
daß  der  Betrachter  kaum  ihren  ganzen  Wert  erschöpfen  kann^). 

Die  vierzehn  Darstellungen  der  Passionsgeschichte  in  der 
Dorf  kirche  von  Rosny  bei  Mantes  kommen  neben  diesen  Werken 
nicht  in  Betracht,  zumal  barbarische  Vernachlässigung  durch  den 
Klerus,  die  übrigens  auch  der  großen  „Flucht  nach  Ägypten", 
Corots  Salonbild  von  1840,  am  selben  Orte  zuteil  wird,  sie  heute 
schon  zu  Ruinen  gemacht  hat^).  In  dieselbe  Zeit  fallen  die 
vier,  bei  Decamps  in  Fontainebleau  gemalten,  landschaftlichen 
Panneaux^),  die  später  in  den  Besitz  Sir  Frederic  Leightons 
übergingen,  und  die  vier  kleinen  Ovals  in  einer  Louis  XV.^Ver^ 
täfelung  des  Schlosses  von  Gruyeres  in  der  Schweiz*)-  In  den 
sechziger  Jahren,  als  Daubigny  sein  schwimmendes  Atelier  auf 
der  Oise  mit  einem  stabileren  Sommersitz  in  Auvers  vertauschte, 
malte  Corot  auf  die  frischen  Wände  im  Hause  des  Freundes 
ein  paar  seiner  schönsten  Dekorationen.  Die  größte  von  ihnen 
diente  einem  Don  Quichotte  Daumiers  als  Pendant  und  zeigte 
im  Hintergrunde  die  beiden  typischen  Cervantes :=  Figuren,  die 
Daumier  so  oft  gemalt  hat.  Auch  die  drei  Skizzen,  die  früher 
bei  Herrn  Ganz  in  Berlin  waren,  scheinen  zu  einer  Dekoration 
zusammengehört  zu  haben''). 

Die  Liste  ist  damit  noch  nicht  erschöpft,  doch  lang  genug. 


^)  Wie  Robaut  berichtet,  veranlaßte  er  Corot  kurz  vor  seinem  Tode, 
die  Fresken  in  verkleinertem  Maßstabe  auf  Leinwand  zu  übertragen.  Vgl. 
L'oeuvre  de  Corot  Nr.   1074  bis  1077  und  2311  bis  2314. 

2)  L'oeuvre  de  Corot  Nr.   1083  bis  1096,  entstanden  von  1853  bis  1859. 

^)  L'oeuvre  de  Corot  Nr.   1104  bis  1107,  entstanden  gegen  1858. 

^)  L'oeuvre  de  Corot  Nr.  1078  bis  1081,  entstanden  von  1854  bis  1858. 

^)  Fehlen  in  L'oeuvre  de  Corot. 

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Macbeth  und  die  Hexen.     1859. 

1,20x1,50.     (Moreau.Nelaton   1109.) 

Hertford  House:  Wallace  Collection. 

Photo  Hanfstaengl,  München. 


63 


um  die  Art  zu  zeigen.  Diese  Art  unterscheidet  sich  im  Grunde 
von  den  anderen  Werken  Corots  nur  durch  das  Format  und 
eine  noch  leichtere  Grazie  der  Gestaltung.  Sie  hat  seinem  Ruhme 
kaum  Entscheidendes  zugefügt,  sondern  ist  mehr  der  Überschuß 
einer  schier  unversieglichen  Kraft.  Doch  dient  sie  als  Schlüssel 
zum  Verständnis  des  Meisters.  Sie  hilft  zumal,  die  Stellung 
Corots  zu  der  wichtigsten  Schule  des  19.  Jahrhunderts  zu  ht^ 
greifen,  mit  der  man  ihn  vorschnell  verwechselt  hat.  Die  Be** 
trachtung  des  Landschafters  wird  uns  darüber  noch  eingehender 
aufklären. 

Was  wir  an  dem  Meister  Romantisches  in  der  Art  Delacroix' 
fanden,  wird  durch  die  der  Dekoration  zugeneigte  Seite  paralysiert. 
Der  Sehnsucht,  die  in  S.  Sulpice  und  im  Louvre^Plafond  brünstige 
Hymnen  stammelt,  versagt  sich  die  milde  Lyrik  stiller  Träume. 
Beide  Künstler  erschöpfen  vereint  das  Genie  ihres  Volkes.  In 
Deutschland  kennt  man  nur  die  Seite  Delacroix'  und  verkennt 
sie,  weil  man  nicht  das  Recht  zur  Pose  begreift.  Die  schlichte 
Poesie  Corots  gehört  noch  enger  zum  Volke.  Sie  stammt  nicht 
von  dem  Furor  Pugets,  den  Delacroix  am  meisten  von  seinen 
Vorgängern  verehrte,  sondern  von  den  freundlichen  Gärtnern 
des  17.  und  18.  Jahrhunderts,  deren  Geist  auch  heute  noch  zu^ 
weilen  die  Kunst  unserer  Nachbarn  schmückt. 


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Der  heilige  Sebastian.     1850-55. 

0.52x0,34.     (Moreau.Nelaton  1035.) 

Früher  Sammlung  Cheramy. 


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Italienische  Stadt.     Gegen  1843. 
Photo  Druet,  Paris. 


Der  Landschafter 

Man  kann  die  Kunst  der  Primitiven  mit  einer  Heiligenfigur, 
die  Blütezeit  der  alten  Malerei  mit  dem  Porträt  eines  stattlichen 
Mannes,  das  18.  Jahrhundert  mit  einer  Schäferszene  darstellen. 
Unsere  Zeit  gibt  sich  in  einer  Landschaft.  Hier  fand  die  eins= 
same  Malerei  ein  Gebiet,  in  dem  sie  der  Mangel  an  Tradition 
nicht  schädigte,  sondern  bevorzugte.  Es  konnte  im  ganzen  Um^* 
fang  erst  entdeckt  werden,  als  die  Persönlichkeit  die  Kraft  ges* 
Wonnen  hatte,  in  der  Kunst  auf  sich  selbst  zu  bestehen.  Für 
die  Antike  gab  es  keine  Landschaft.  Die  kirchliche  Kunst  hatte 
den  Blick  auf  freundliche  Gelände  zu  Hintergründen  benutzt. 
Die  Holländer  des  17.  Jahrhunderts,  die  weder  mit  der  Antike, 


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noch  mit  der  Kirche  fertig  wurden  und  sich  schon  in  der  Zwangs^: 
läge  befanden,  die  sich  200  Jahre  später  um  vieles  verschärfte, 
schnitten  mit  ihren  glorreichen  Werken  der  Zukunft  nicht  die 
Möglichkeit  ab,  sich  des  Gebiets  wie  eines  neu  entdeckten  Landes 
zu  bemächtigen.  Was  die  Ruysdael,  Hobbema,  van  Goyen  und 
Aert  van  der  Neer  begonnen  hatten,  forderte  vielmehr  die  Fort;* 
Setzung  heraus. 

Dieselbe  Begünstigung  der  Neuzeit  läßt  sich  auf  keins  dre 
anderen  Gebiete  der  überlieferten  Kunst  ausdehnen.  Unsere 
Untauglichkeit  für  das  Heiligenbild  springt  in  die  Augen,  und 
die  Gründe  sind  jedem  Laien  verständlich.  Aber  selbst  das 
Porträt,  anscheinend  das  Neutrum  unter  den  Objekten,  versagt 
uns  die  volle  Pracht  der  Alten,  und  wir  geben  uns  einer  Fiktion 
hin,  wenn  wir  in  der  Art  unserer  Charakteristik  den  vollen  Er^ 
satz  erblicken.  Es  ist  nicht  vollkommen  richtig,  daß  unsere 
Porträts  unsere  Zeit  so  geben  wie  die  alten  ihre  Epoche.  Nur 
erlaubt  der  Unterschied  nicht  auf  eine  Differenz  der  künstlerischen 
Fähigkeiten  zu  schließen.  Wir  malen  keine  Porträts  mehr  wie 
die  Alten.  Die  Intensität,  mit  der  sich  das  16.  und  17.  Jahr*: 
hundert  des  Gebiets  befleißigten,  hat  anderen  Tendenzen  Platz 
gemacht  und  mußte  weichen,  um  andere,  uns  gelegenere  Kon^ 
zentrationen  zu  ermöglichen. 

So  scheint,  aus  dieser  Entfernung  betrachtet,  die  Einsicht 
in  die  Belanglosigkeit  des  Gegenständlichen  erschüttert.  Es  ist 
nicht  gleichgültig,  was  dargestellt  wird,  wenn  wirklich  ganze 
Epochen  das  eine  besser  als  das  andere  beherrschten.  Torheit 
ist  nur,  das  leicht  ersichtliche  Resultat  der  Gewöhnung  für 
wichtig  genug  zu  halten,  um  das  fürs  Allgemeine  Geltende  aufs 
Besondere  zu  übertragen  und  daraus  dem  Einzelnen  eine  Richte 
schnür  zu  knüpfen.  Verderblich  war  der  Aberglaube  der  Klassik 
zisten,  die  Landschaft  an  sich  sei  nie  der  Darstellung  wert,  die 
Beschränktheit  des  würdigen  Valenciennes,  des  Malers  und 
Ästhetikers  der  Revolution,  dem  Claude  Lorrain  zu  realistisch 
war,  weil  ,,die  Götter,  Halbgötter,  Nymphen  und  Satyrn  seinen 
schönen  Gegenden  zu  fremd  geblieben  seien",  und  der  auf 
solchen  Anschauungen  ein  Werk  über  die  Landschaft  aufbaute^). 

^)  Elements  de  perspective  pratique  h  l'usage  des  artistes,  suivis  de 
reflexions  et  conseils  sur  le  genre  du  paysage  (Paris  l'an  VIII). 

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Und  ein  geringes  dieses  Aberglaubens  haftet  auch  noch  dem 
heutigen  Kunstfreund  an,  der  seine  Liebe  auf  ein  vom  Titel  der 
Werke  bestimmtes  Gebiet  beschränkt  und  nur  Landschaften  oder 
nur  Stilleben  oder  nur  phantastische  Stoffe  liebt.  Er  übersieht, 
daß  er  mit  solchen  Sach^Einteilungen  vom  Schönen  wenig  sagt, 
nur  von  sich  selbst  einen  kleinen  Organisationsfehler  verrät,  der 
sein  Urteil  trübt  wie  der  feine  Sprung  im  Porzellan  den  reinen 
Klang  des  Gefäßes. 

Das  Heiligenbild  war  in  der  alten  Zeit  gute  Richtung,  weil 
man  es  beherrschte,  weil  so  viele  Generationen  daran  geschaffen 
hatten,  daß  schließlich  der  Künstler  mit  der  besonderen  Be^ 
f ähigung  für  diesen  Gegenstand  auf  die  Welt  kam.  Das  Porträt 
der  Alten  war  nicht  allein  das  Bildnis  dieses  und  jenes  Bestellers, 
sondern  Abbild  einer  von  der  ganzen  Zeit  gebildeten  Norm, 
eine  Variation  des  Autors  nach  den  Zügen  des  Bestellers,  daher 
ganz  etwas  anderes,  als  wir  heute  darunter  verstehen.  Das  heißt 
also,  das  vermeintlich  Gegenständliche  war  auch  damals  in  Wirk^ 
lichkeit  Form.  Wenn  David  seinem  gefeierten  Schüler  Gros 
empfahl,  nun  endlich  mal  ein  ernsthaftes  Historienbild  zu  malen, 
meinte  er  in  Wirklichkeit  die  beliebte  Antike. 

Die  Landschaft  schuf  ein  neues  Geleis.  Sie  strahlt  so  stark 
die  Taten  der  Künstler,  die  sich  mit  ihr  beschäftigt  haben,  zu^^ 
rück,  daß  man  zu  dem  Trugschluß  neigt,  ihr  die  schöpferische 
Rolle  zuzutrauen,  die  große  Maler  mit  ihr  spielten.  Sie  schuf 
neue  Anschauungen,  neue  Mittel,  diese  Anschauungen  zu  Bildern 
zu  machen,  neue  Formen.  Für  den  Maler  der  alten  Zeit,  der 
nur  den  Menschen  darstellungswert  gefunden  hatte,  war  die 
übrige  Natur  ein  kleiner  Rest.  Für  den  Landschafter  verlor  der 
Mensch  die  isolierte  Bedeutung,  die  Anschauung  wurde  pan^ 
theistisch.  Und  mit  der  Bedeutung  verlor  der  Mensch  die 
Formenwelt,  die  sich  um  ihn  festgenistet  hatte.  Die  große 
Atabeske  aus  dem  Umriß  des  Nackten  taugte  nicht  für  die 
Pläne  mit  den  Feldern  und  Wäldern  und  dem  Himmel  im 
Hintergrund.  Aus  der  Kurve  wurde  die  Gerade.  Und  wie  die 
Kurve  einen  ganzen  Kosmos  von  geschwungenen  Formen  ge* 
bracht  hatte,  so  schuf  die  Gerade  eine  Welt  von  Strichen,  von 
Winkeln  aller  Art,  den  Schnitten  vergleichbar,  die  der  Spaten 
in  die  Erde  gräbt.    Aber  auch  die  Landschafter  gedachten  nicht, 

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auf  die  Darstellung  des  Menschen  zu  verzichten.  Sie  brachten 
ihn  wieder,  aber  er  war  nun  etwas  ganz  anderes  als  früher,  da 
die  dramatische  Kurve  ihn  umspielt  hatte.  Es  war  der  Mensch 
von  Landschaftern,  mit  den  Eigentümlichkeiten  einer  Methode 
gemacht,  die  den  Maler  daran  gewöhnt  hatte,  das  Licht  auf 
großen  Flächen  zu  beobachten.  Der  neue  Mensch  hing  mit  dem 
neuen  Kosmos  zusammen,  war  Teil  und  Untergebener,  wo  er 
vorher  als  König  geherrscht  hatte. 

Corot  war  im  Grunde  nicht  mehr  Landschafter  als  wie 
Poussin,  nur  darf  man  das  Landschaftliche  Poussins  nicht  zu 
gering  anschlagen.  Er  war  nicht  Nur^Landschafter.  Aber  hat 
sich  je  ein  großer  Künstler  auf  dieses  Nur  beschränkt?  Nicht 
die  Genügsamkeit  mit  einem  Gebiet  der  Natur  meine  ich,  sondern 
die  Enge  der  Anschauung,  die  Beschränkung  auf  eine  Behandlung, 
die  scheinbar  nur  auf  eine  Gattung,  in  Wirklichkeit  auf  keine 
paßt.  Hätte  Rembrandt  nur  Porträts  gemalt,  so  wäre  er  nichts^ 
desto  weniger  der  inbrünstige  Phantast;  hätte  er  nur  Legenden 
gemalt,  so  wäre  er  nichtsdestoweniger  der  große  Rechner.  Ja, 
war  nicht  im  Grunde  alles  Porträt  und  gleichzeitig  alles  Legende, 
und  ist  das  nicht  immer  so?  Gibt  es  eine  Kunst,  die  nicht  beides 
selbst  im  beschränktesten  Gegenstande  vereint? 

Auch  Corot  war  Landschafter  in  dem  Sinne,  daß  er  im 
19.  Jahrhundert  lebte  und  seine  Sprache  mit  den  Lauten  der  Zeit 
bildete.  Er  drückte  sich  im  Grunde,  wenn  man  das  einzelne 
nimmt,  nicht  anders  aus  als  irgend  einer  der  großen  Landschafter, 
aber  erscheint  wie  ein  großer  Dichter  neben  tüchtigen  Prosaisten. 
Nicht  etwa  die  Nymphen  seiner  Bilder  geben  ihm  diesen  Vor# 
rang,  sondern  seine  Fähigkeit,  bereits  in  vollkommener  Freiheit 
mit  einer  Form  zu  wirtschaften,  die  von  ihm  und  anderen,  ja 
vielleicht  mehr  noch  von  anderen,  geschaffen  worden  war,  aber 
die  anderen  noch  an  Einzelheiten  fesselte.  Er  erscheint  uns,  und 
so  erschien  er  auch  der  folgenden  Generation  von  1870,  als  die 
größere  Persönlichkeit,  als  reicherer  Künstler,  in  dem  das  Resultat 
der  Entwicklung  zu  einer  durchaus  geschlossenen  Form  gediehen  ist. 

Ihm  selbst  war  dieser  Vorsprung  vor  den  Jüngeren  durch:« 
aus  unbewußt.  Er  legte  sich  seine  Sonderstellung  lediglich  als 
Resultat  seiner  intimen  Beziehungen  zur  altfranzösischen  Tra^ 
dition  aus  und  fühlte  sich  unter  den  Genossen  in  ßarbizon  als 

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Fremder.  Die  Erzählung  der  Kunstgeschichte  von  seinen  intimen 
Beziehungen  zu  dem  Kreise  Rousseaus  gehört  ins  Reich  der 
Fabel.  Künstler  dürfen  verkehrt  urteilen  und  müssen  es  bis  zu 
einem  gewissen  Grade.  Corot  selbst  trotz  seiner  unendlichen 
Milde  machte  keine  Ausnahme.  Gestand  er  doch  einmal  zu 
Sensier,  er  könne  sich  mit  dem  „Art  Nouveau**  nicht  befreunden. 
Unter  dem  ,,Art  Nouveau*'  verstand  er  nicht  etwa  moderne 
Stühle,  sondern  Millet;  zehn  Jahre  vorher  hatte  er  noch  Dela^^ 
croix  darunter  verstanden.  Und  wieviel  näher  mußten  ihm  diese 
beiden  sein  als  Cabat,  Flers,  Dupre  und  zumal  Rousseau.  Den 
Künstlern  von  Barbizon  wiederum  galt  er  als  Kompromißler, 
verehrungswürdig  allenfalls,  weil  es  der  brave  Pere  Corot  war, 
aber  mit  der  Bravheit  verband  sich  eine  Nuance  von  Vieux  jeu. 
Moreau^Nelaton  spricht  von  einem  „antagonisme  inavoue  mais 
reel"')  der  Barbizonkünstler  und  stützt  sich  dabei  auf  Zeit:* 
genossen,  die  es  wissen  mußten.  Zwischen  den  Zeilen  liest  man 
bei  Fromentin  dasselbe  heraus.  Wir  haben  den  wesentlichsten 
Grund  dieses  Verhältnisses  oben  bei  der  Betrachtung  der  Be^ 
ziehung  der  Landschafter  von  1830  zu  den  Holländern  gestreift. 
Diese  bildeten  sich  ein,  nur  Landschafter  zu  sein,  nur  nach  der 
Natur  zu  malen,  und  sahen  darin  ein  Zeugnis  ihrer  Ehrlichkeit. 
In  Wirklichkeit  saßen  sie  etwas  länger  draußen  bei  dem  Natur* 
Studium,  malten  während  des  Sehens,  während  Corot  weniger 
bei  der  Arbeit  nach  dem  Modell  schaute;  eine  rein  äußerliche 
Differenz,  die  auf  den  bekannten  fiktiven  Gattungsunterschied 
hinauslief.  Corot  malte  Nymphen,  das  genügte  den  allzu  Ge* 
sinnungstüchtigen. 

Unter  dem  Spiel  der  Nymphen  aber  verbarg  sich  noch  ein 
besonderer  Unterschied,  von  dem  sich  weder  der  eine  Teil  noch 
der  andere  Rechenschaft  ablegte:  Corot  war  Tonmaler,  die  an;: 
deren  waren  Koloristen.  Bei  beiden  gilt  es,  dieses  sachliche 
Argument  mit  vielen  nicht  weniger  sachlichen  Reserven  auszu:* 
statten,  um  der  Wahrheit  treu  zu  bleiben. 

Wir  fanden  schon  im  Anfang  unserer  Arbeit  den  Ton 
als  wichtiges  Entwickelungsmoment  Corots,  sahen,  daß  er  ihn 
sozusagen   mit  auf  die  Welt  brachte,   denn  schon  in  der  ersten 


')  L'oeuvre  de  Corot  I,  S.  240. 

74 


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römischen  Zeit,  als  die  köstlichen  Ansichten  der  Tiberbrücke  usw. 
entstanden,  als  Corot  nur  sachliche  Notizen  sammeln  wollte, 
tauchte  er  seine  Dinge  in  duftige  Atmosphäre.  Wie  wenig 
solcher  Anfang  ohne  die  ganz  spezifische  Anlage  Corots  na* 
türlich  war,  kann  man  ermessen,  wenn  man  sich  der  italienischen 
Anfänge  eines  begabten  Koloristen  wie  Bonington  erinnert,  der 
in  der  gleichen  Lage  die  grausamsten  Härten  sehen  ließ  und 
in  seinen  Ansichten  von  Venedig  gleichsam  einen  versteinten 
Guardi  zeigte. 

Diese  Klippe  hat  es  für  Corot  nie  gegeben.  Seine  Kunst 
war  von  Natur  aus  weich  wie  der  ganze  Mensch.  Aber  wie 
sich  mit  der  sprichwörtlichen  Güte  seines  Gemüts  eine  hünen* 
hafte  physische  Kraft  verband,  so  umhüllte  auch  seine  geschmei? 
dige  Form  eine  elementare  Stärke,  die  dafür  sorgte,  daß  das 
Geschmeide  nicht  zum  sentimentalen  Dusel  wurde. 

Wir  fanden  ihn  bei  seinem  zweiten  Aufenthalt  in  Rom  im 
Jahre  1843  auf  der  Suche  nach  der  Form  für  seine  Frauenbilder. 
Zur  selben  Zeit  ungefähr,  als  die  „Zerstörung  Sodoms"  entstand, 
malte  Corot  eine  Reihe  sehr  schöner  Landschaften.  Die  Perle 
von  ihnen  befand  sich  bei  Henri  Rouart,  dem  reichsten  Corot* 
Sammler 0:  die  Gärten  der  Villa  d'Este  in  Tivoli,  mit  dem 
Jungen  auf  der  Mauer").  Das  kleine  Bild  hat  die  Poesie  der 
berühmten  Ansichten  aus  der  Villa  Medici,  im  Prado,  als  Velas* 
quez  noch  im  Werden  war,  noch  nicht  den  generalisierenden 
Ton,  den  großen  Stil,  besaß  und  dafür  die  unverhüllte  Zier* 
lichkeit,  prickelnde  Süße  sehen  ließ.  Ganz  ähnlich  verhalten 
sich  die  Frühwerke  mancher  anderen  Maler  zu  den  berühmteren 
späten  Werken.  Viele  haben  in  ihren  Anfängen  eine  Art  „Hagar*, 
gemacht.  Bei  Rembrandt  ist  es  der  kleine  Geldwechsler  in  Berlin 
und  der  nicht  weniger  possierliche  Paulus  in  Stuttgart.  Alle 
streben,  den  relativen  Materialismus  der  Jugend  in  immer  brei* 
tere,  umfassendere  Malerei  zu  lösen.  Die  Aufgabe  ist,  bei  dieser 
notwendigen  Reduktion  möglichst  wenig  zu  verlieren,  die  Größe 
vor  Hohlheit  zu  bewahren,  das  Flache  gleichzeitig  körperlich, 
die  Synthese  so  reich  wie  möglich  zu  machen.    Corot  zeigt  alle 


^)  Besaß  er  doch  nicht  weniger  als  53  Gemälde  des  Meisters. 
')  L'oeuvre  de  Corot  Nr.  457. 


77 


Licht;*  und  Schattenseiten  dieser  Entwickelung.  Es  ist  ihm  nicht 
immer  gelungen,  die  Gefahr  des  Eintönigen,  die  auf  allen  Gipfeln 
beherrschter  Mittel  lauert,  zu  umgehen,  und  die  Bedeutung,  die 
für  ihn  das  Figürliche  annahm,  drängt,  ähnlich  wie  bei  Velasquez, 
später  die  Landschaft  in  den  Schatten.  Daher  gehören  in  man*: 
eher  Beziehung  die  vierziger  Jahre  zur  glücklichsten  Zeit  des 
Landschafters,  weil  er  während  dieser  Jahre  die  geringsten  Vers* 
luste  zeigt.  Die  Hülle  auf  den  „Gärten  der  Villa  d'Este"  ist 
noch  ganz  durchsichtig.  Der  Schatten  verschweigt  nichts,  was 
man  sehen  möchte.  Die  Farbe  entsteht  aus  einer  Fülle  deut^ 
lieber  Abstufungen,  die,  trotzdem  sie  die  zartesten  Nuancen 
umfassen,  immer  körnig  bleiben  und  so  den  Reichtum  immer 
wieder  erneuern.  Man  glaubt  eine  zarte  Frucht  zu  genießen 
und  merkt,  wie  der  Genuß  durch  den  leisen  Widerstand  in  der 
Zartheit  beständig  erhöht  wird.  Das  Terrain  kam  Corot  in 
Tivoli  entgegen,  die  Kombination  von  Architektur  und  reicher 
Natur,  die  schöne  Übersicht  der  Pläne.  Aber  er  siegt  auch,  wo 
sich  das  Modell  nicht  so  bildhaft  darbietet.  So  in  dem  anderen 
Bild  bei  Rouart^),  oder  in  den  ,,Cascatelles"  der  Sammlung 
Moreau,  oder  in  dem  merkwürdigen  Genzano^Bildchen,  früher 
bei  Cheramy,  das  mehr  im  Fluge  gewischt  als  gemalt  scheint 
und  dabei  alle  Differenzen  mit  größter  Deutlichkeit  zeigt:  den 
dunklen  Bauernjungen  auf  dem  gelben  Sandweg,  die  weiße  Bäuerin 
mit  dem  roten  Kopftuch  und  vorne  das  schöne  Smaragdgrün 
der  Gebüsche  neben  der  dunkelbraunen  Ziege").  In  Hunderten 
von  Landschaften  der  folgenden  Jahre  ging  Corot  auf  demselben 
Wege  weiter,  bald  die  Weite  des  Horizonts  in  seinen  Rahmen 
spannend,  um  von  einem  lauschigen  Vordergrund  die  dunstige 
Ferne  zu  malen;  bald  den  Landleuten  am  Wege  oder  auf  der 
Wiese  folgend,  um  die  innige  Zusammengehörigkeit  von  Mensch 
und  Land  in  warmen  Tönen  zu  schildern;  bald  —  wie  auf  dem 
stillen  Weiher  der  Sammlung  Sarlin,  der  uns  1900  auf  der  Zen*= 
tenarausstellung  entzückte^)  —  um  sich  und  uns  in  Einsamkeit 
einzuspinnen.  Es  ist  ein  himmlischer  Frieden  in  dieser  Natur, 
man    kann    sich    ihm    nicht    entziehen,    weil   er   zu   schlicht,    zu 

^)  L'oeuvre  de  Corot  Nr.  454. 
^)  L'oeuvre  de  Corot  Nr.  457  bis 
^)  L'oeuvre  de  Corot  Nr.  759. 

78 


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79 


selbstverständlich  ist,  um  den  Zweifel  zu  wecken.  Man  glaubt 
als  unbemerkter  Zuschauer  dabei  zu  sein.  Die  Augen  wandeln 
mit  den  kleinen  zufriedenen  Menschen  auf  den  Bildern,  gleiten 
wohlig  über  die  Büsche  zwischen  den  Bäumen  hindurch,  streifen 
gelassen  die  Häuser  und  Kirchtürme.  Es  sind  bekannte  Dinge, 
obschon  man  nie  dort  war.  Man  sehnt  sich  nicht  mal  nach 
ihnen,  so  nahe  glaubt  man  zu  sein.  Es  ist,  als  ob  die  Luft  auf 
den  Bildern  auch  uns  selbst  mit  umspiele. 

Nach  zwei  gleichzeitigen  Richtungen  hin  modifiziert  sich 
diese  reiche  Epoche  Corots.  In  der  einen  gibt  er  seiner  Dich^ 
tung  nach,  überläßt  sich  dem  Ton,  dem  silbergrauen  Licht,  das 
den  Nymphen  so  gut  steht,  und  vergißt  darüber  manches  an* 
dere.     In  der  anderen  wird  er  Kolorist. 

Werden  die  silbergrauen  Nymphen^Landschaften  immer  so 
geschätzt  werden  wie  heute?  Vom  Publikum  vermutlich,  denn 
sie  sind  die  leichteste  Ware  unter  den  reichen  Schätzen  des 
Meisters.  Der  Freund  der  Corotschen  Muse  wird  die  Beweg== 
lichkeit  der  Nymphen  vielleicht  einmal  geringer  achten  als  die 
Beweglichkeit  des  Pinsels  in  weniger  eintönigen  Bildern.  Die 
„Matinee"  mit  dem  Nymphentanz  gefällt  jedem  Besucher  des 
Louvre  zuerst  am  besten;  man  übersieht  das  Bild  schnell,  das 
lose  Spiel  nimmt  sofort  gefangen.  Aber  es  muß  wohl  an  der* 
selben  losen  Malerei  liegen,  daß  der  Bewunderer  nicht  festge* 
halten  wird  und,  wenn  er  oft  dieselbe  Art  in  den  anderen  be* 
rühmten  Bildern  wiederfindet,  fühlt,  wie  sich  eine  gewisse  Kühle 
in  die  Bewunderung  schleicht.  Wir  sind  mit  Recht  wählerisch 
in  der  Kunst.  Wer  nicht  in  der  Kunst  empfindlich  ist,  ist  es 
auch  nicht  im  Leben,  und  hier  wie  dort  ist  Gewohnheitsliebe 
Sünde  am  eigenen  Leibe.  Wir  haben  um  so  mehr  Recht,  zumal 
vor  großen  Meistern  so  zu  sein,  weil  sie  uns  das  schulden,  was 
wir  ihnen  geben.  Der  neue  Platz,  den  sie,  zuweilen  nicht  ohne 
Verluste  für  uns,  in  unserer  Liebe  erobern,  das  Neue,  das  sie 
uns  aufdrängen,  ihr  ganzer  Anspruch  rechtfertigt  sich  nur,  wenn 
wir  die  Notwendigkeit  ihrer  neuen  Formen  empfinden.  Diese 
Notwendigkeit  wird  zweifelhaft,  sobald  sich  die  Form  in  die 
Manier  verirrt. 

Was  manieriert  ist,  läßt  sich  in  jeder  Ausstellung  empfinden, 
dagegen   schwer  formulieren.     Wir  verknüpfen   mit  dem  Wort 

80 


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Altes  Landhaus  in  der  Nähe  von  Semur.     1855-60. 

0,33x0,21.     (Moreau.Nelaton  839.) 

Photo  Durand^Rucl,  Paris. 


81 


Morgen  auf  dem  Lande.     1850. 

0.97x1,30.     (Moreau.Nelaton  1061.) 

Paris,  Louvre. 

Photo  Hanfstaengl,  München. 


den  Tadel  der  Wiederholung,  werfen  dem  Künstler  vor,  das= 
selbe  Resultat  immer  wieder  zu  bringen  und  sich  von  Selbst^ 
be wunderung,  nicht  vom  Drange  zur  Kunst,  tragen  zu  lassen. 
Andererseits  gehört  die  Wiederholung  zur  Kunst,  denn  ohne 
sie  läßt  sich  weder  im  einzelnen  Werk,  noch  in  dem  Lebenswerk 
eines  Künstlers  ein  Stil  denken.  Wir  wissen  nichts  vom  Künstler 
außer  seiner  Art,  und  diese  Art  geht  notwendig  aus  Wieder^: 
holungen  hervor.  Der  Unterschied  zwischen  diesen  beiden  Be^ 
griffen,  von  denen  eins  das  Höchste,  das  andere  das  Niedrigste 
bezeichnet,  muß  logischerweise  im  Objektiven  liegen,  d.  h.  eine 
sachlich  aus  dem  Werk  hervorgehende  Qualitätsfrage  sein.  Die 
Manier  ist  nicht  etwa  wertvoll  aus  geschichtlichen  —  etwa  ent^ 
wicklungsgeschichtlichen  —  Gründen;  wenn  wir  diese  heranziehen, 
bedienen  wir  uns  nur  einer  Brücke  zu  unserer  Logik,  um  vorher 
vorhandene  Empfindungen  zu  legitimieren.  Wohl  nützt  uns 
der   Vergleich   mit   anderen  Werten;    er   spricht  latent  bei  jeder 


82 


neuen  Erfahrung  mit,  ja  macht  sie  erst  in  höherem  Sinne 
mögHch,  bereitet  das  Bett  für  jeden  neuen  Genußwert.  Nur, 
bevor  wir  vergleichen,  um  in  uns  die  ästhetische  Freude 
zu  entzünden,  ist  ein  Ansporn  anderer,  elementarer  Art  nötig: 
das  Bewußtsein,  keine  Form,  sondern  einen  Menschen  vor  uns 
zu  haben. 

Der  Mangel  fängt  da  an,  wo  der  Vorzug  aufhört.  Die 
Manier  wird  da  zum  Manierismus,  wo  ihre  Notwendigkeit  nicht 
mehr  vollkommen  gesetzmäßig  erscheint,  wo  für  die  Erweisbar^ 
keit  ihres  Wertes  nicht  ihre  in  sich  abgeschlossene  Welt  auftritt, 
wo  die  Manier  nicht  alle  Grenzen  des  von  ihr  gestalteten  Werkes 
umfaßt,  sondern  Lücken  läßt.  Die  Manier  ist  so  lange  Künste: 
mittel,  solange  sie  vollkommen  dem  Zwecke  dient  und  den  Zu^ 
sammenklang  des  Subjektiven  und  Objektiven,  die  Grundbe? 
dingung  jedes  Kunstwerkes,  nicht  stört.  Manierismus  ist  das 
Subjekt  ohne  Objekt,  Originalität  ohne  Bewußtsein,  die  Schale 
ohne  den  Kern,  die  Betonung  einer  dem  Autor  oder  der  Welt 
gefälligen  Seite  auf  Kosten  des  Ganzen.  Da  die  Bedeutungen 
an  einem  Punkt  zusammenfließen,  wo  nur  eine  feine  Linie  be^ 
sagt,  wann  die  Manier  aufhört  und  der  Manierismus  beginnt, 
lassen  sich  beide  Begriffe  oft  im  selben  Künstler  nachweisen,  ja 
sie  treten  zuweilen  im  selben  Werke  auf,  und  dann  kann  na^ 
türlicherweise  der  Manierismus  nur  eine  Nuance  darstellen.  Dies 
ist  der  Fall  Corots  in  gewissen  Landschaften.  Er  brachte  vorher 
durch  eine  Kette  von  Wirkungen  eine  Erscheinung  hervor,  die 
wir  als  seine  Atmosphäre  lieben  lernten.  Es  ist  eine  Stufenleiter 
von  sorgfältig  abgewogenen  Effekten,  die  nur  getroffen  werden, 
wenn  der  Maler  mit  voller  Selbstentäußerung  an  nichts  als  an 
die  Sache  denkt.  Wir  gehen  diese  Leiter  zum  Genuß  hinauf 
und  erblicken  dann  von  oben  nur  noch  die  Summe  dieser  Reize, 
ein  Bild,  das  keiner  Kontrolle  mehr  bedarf.  Vielleicht  fliegen 
wir  bei  geliebten  Künstlern  die  Stufen  hinan,  ohne  zu  zählen, 
ja  ohne  die  Stufen  zu  berühren:  ein  Blick,  und  wir  sind  bei 
ihm.  Seine  Manier  ist  so  stark  und  wurde  uns  so  gewohnt, 
daß  ein  Wink  uns  zwingt.  Um  so  sicherer  muß  der  Künstler 
seine  Stufen  bauen,  denn  die  sie  gehen  werden,  sind  nie  die:* 
selben.  So  stark  müssen  sie  sein,  um  in  aller  Ewigkeit,  solange 
das  Haus  steht,  den  Menschen  zum  Himmel  zu  geleiten. 

6* 
83 


Der  solide  Bau  fehlt  manchen  der  berühmten  silbergrauen 
Landschaften  Corots.  Die  Stufen  sind  verwischt,  in  der  Eile 
gemacht.  Bilder,  die  ihrer  Anlage  nach  Tiefe  haben  müßten, 
wirken  flach,  oder  die  Tiefe  ist  mit  gar  zu  geringen  Mitteln 
gegeben.  Die  Nymphen,  die  nur  die  Begleiter  einer  unendlich 
zaubervollen  Landschaft  sein  müßten,  tanzen  in  einem  Dekor, 
das  nicht  ganz  die  Beziehung  zum  Theater  vergessen  macht,  aus 
der  sie  sehr  oft  entstanden.  Das  Grau,  in  das  man  wie  bei 
anderen  Corots  tief  hineinblicken  möchte,  ohne  Ende  zu  finden, 
das  nicht  aus  grauer  Farbe,  sondern  aus  tausend  Dingen  bestand, 
deckt  allzu  oberflächlich  eine  dünne  Leinwand.  Es  ist  immer 
noch  sehr  schön.  Der  Louvre  zeigt  nicht  das  absolut  Beste  des 
Genre.  Man  muß  die  Baigneuses  bei  Henri  Rouart  sehen  und 
die  bei  Cuvelier  und  bei  Coats,  das  Bad  der  Diana  im  Museum 
von  Bordeaux,  die  Nymphenbilder  in  Chantilly,  bei  Arnold  und 
Tripp,  oder  das  Pastorale  im  Museum  von  Glasgow.  In  allen 
stecken  unvergängliche  Dinge.  Ob  ein  Corot  in  einer  Nuance 
Manierist  wird,  oder  ein  Besnard  mit  einer  Nuance  Künstler 
bleibt,  ist  zweierlei.  Ja,  hätte  Corot  nichts  anderes  als  diese 
Werke  geschaffen,  bliebe  Grund  genug,  ihn  zu  verehren.  Nur 
soll  man  diese  Kunst  nicht  als  seine  Haupttat  feiern,  nicht  ges^ 
rade  das  in  den  Himmel  heben,  was  allein  im  ganzen  Werk  eine 
Kritik  herausfordert. 

Es  war  nichts  weniger  als  der  feile  Grund  der  Schwachen, 
der  Corot  zu  der  Spur  von  Manierismus  trieb.  Keine  Gewinn^ 
sucht  bei  dem  Generösesten  aller  Kameraden,  kein  Schielen  nach 
oben  —  wir  haben  dafür  sprechende  Beweise  —  auch  keine 
Schwächung,  die  begreiflich  wäre.  Andere  sind  in  jüngeren 
Jahren  und  nach  geringerem  Werk  den  sanften  Pfad  hinabges* 
glitten:  Wie  stark  Corot  bis  an  sein  Ende  blieb,  werden  wir 
noch  erfahren.  Ich  glaube,  es  war  just  seine  Generosität,  seine 
Gutmütigkeit,  was  in  bewunderungswerte  Dinge  den  Wurm 
hineinließ;  der  Wunsch,  Bilder  zu  geben,  wie  er  Geld  gab,  um 
andere  zu  beglücken;  eine  Sorglosigkeit,  die  fern  von  dem 
grübelnden,  sich  aufreibenden  Dämon  Delacroix',  fern  von 
dem  Egoismus  der  Genies,  des  Grans  von  Gift  entbehrte, 
das  die  Großen  in  sich  haben  müssen,  um  ihre  Werke  heil 
zu  halten. 

84 


Vor  dem  Dorfe  (Umgebung  von  Beauvais).     1855—65. 

(Moreau^Nelaton  1003) 

Paris,  Louvre. 

Photo  Hanfstaengl,  München. 


85 


Nur,  wenn  es  gerecht  ist,  solche  Reserven  auszusprechen, 
muß  man  sich  hüten,  zu  geschwind  zu  generaHsieren.  In  gar 
zu  leicht  aufgeklärten  Kunstkreisen  ist  jene  Reserve  längst  zur 
gewohnten  Phrase  geworden,  und  statt  die  relativ  geringe  Zahl 
von  diskutablen  Werken  zu  präzisieren,  pflegt  man  dort  den 
ganzen  älteren  Corot  zu  verwerfen.  Das  ist  eine  viel  größere 
Ungerechtigkeit,  als  wenn  man  die  Ausnahmen  ganz  verschwiege. 

Um  Ausnahmen  handelt  es  sich.  Nicht  das  Alter  Corots 
kommt  als  Schuldiger  in  Frage,  nicht  mal  eine  Periode  seines 
Alters,  sondern  eine  bestimmte,  über  viele  Jahre  hinaus  zer^ 
streute  Art  von  Bildern,  die  genau  gleichzeitig  mit  vollkommen 
entgegengesetzten,  nichts  weniger  als  senilen  Werken  entstanden. 
Die  ,, Matinee"  erschien  im  Salon  von  1851  und  wurde  das  Jahr 
vorher  gemalt.  Damals  war  Corot  54,  für  seine  Verhältnisse 
ein  Jüngling.  Die  glänzendsten  Werke  in  der  Art  der  „Matinee" 
erschienen  alle  später;  dabei  soll  nicht  geleugnet  werden,  daß 
noch  mäßigere  als  die  ,, Matinee"  darunter  sind,  z.  B.  gleich  das 
».Souvenir  d'Italie"  des  Louvre.  Aber  man  braucht  nur  in  den 
nächsten  Saal  zu  gehen,  wo  die  Corots  der  Thomy  Thiery? 
Sammlung  hängen,  um  ebenfalls  spätere  Werke  ganz  modernen 
Schlages  zu  finden,  vor  denen  alle  Reserven  wie  Seifenblasen 
zergehen. 

Mit  solchen  Bildern  könnte  man  eine  neue  Epoche  im  Leben 
Corots  konstruieren.  Es  scheint  wirklich,  als  sei  in  den  fünf? 
ziger  Jahren  neue  Kraft  über  ihn  gekommen.  Oder  liegt  es  nur 
daran,  daß  er  seine  Mittel  erneute  und  vom  Tonmaler  zum 
Koloristen  wurde?  ein  Kolorist,  der  mit  breitem,  unverhülltem 
Pinsel  arbeitete,  an  alles  andere,  nur  nicht  an  Nymphen  im 
Nebel  dachte,  sondern  die  Natur  spontan  niederstrich. 

Wie  die  Gleichzeitigkeit  solcher  grundverschiedenen  Schöp=: 
fungsarten  zu  erklären  ist,  dafür  reicht  keine  Psychologie  aus. 
Schon  der  Corot,  der  in  einem  Salon  den  „Macbeth",  die  ,,Toi? 
lette"  und  „Cache  Cache",  alle  ungefähr  in  denselben  Maßver? 
hältnissen,  ausstellte,  ist  eine  artige  Nuß  für  Kunstphilosophen. 
Und  nun  denke  man  sich,  daß  er  gleichzeitig  wie  ein  bereit 
cherter  blonder  Constable  malte.  Hunderte  und  aber  Hunderte 
getreuster  Naturschilderungen  schuf.  Die  Anschauung,  die  wir 
aus  der  logischen  Entwicklung  unserer  Zeitgenossen,  eines  Manet 

87 


Schloßeingang.     1840-50. 

0,32  K0,45.     (Moreau=Nelaton  479.) 

Paris,  Louvre. 

Photo  DurandsRuel,  Paris. 


oder  Renoir,  gewinnen,  findet  in  Corot,  dem  stillen  Idylliker, 
manche  Rätsel.  Es  scheint,  als  ob  die  Kunst  ihm  etwas  weniger 
Subjektives  war,  da  er  so  verschiedenartige  Erscheinungen  daraus 
zu  locken  wußte,  und  doch  kann  man  sich  kaum  unmittelbarere 
Impressionen  denken  als  die  Perlen  der  Thomy  Thiery^Sammlung. 
So  wirkt  die  weite  Ebene  in  dem  winzigen  „Vallon**^),  so  der 
von  Farben  leuchtende  „Chemin  de  Sevres"''^),  so  vor  allem  die 
„Porte  de  Jerzual'*^)  mit  dem  unwiderstehlichen  Blick  auf  die 
Häuser  jenseits  des  schattigen  Tores.  Und  wenn  man  lernen 
will,  wie  Corot  kurz  vor  dem  Ende  aus  dem  Grau  Stil  zu 
machen  verstand,  ohne  eine  Spur  von  Kompromiß  merken  zu 
lassen,   braucht  man   nur   die  Route   d'Arras*)  zu  nehmen,   das 

')  Louvre  Nr.  2801. 

2)  Louvre  Nr.  2803. 

^)  Louvre  Nr.  2802.  So  wird  das  Bild  im  Oeuvre  de  Corot  genannt 
(N.  990),  im  Louvre  heißt  es  Porte  d'Amiens  (gegen  1860). 

"*)  Louvre  Nr.  2810.  Heißt  in  L'ceuvre  de  Corot  la  Route  de  Sinle# 
Nobe  (Nr.  2169). 


88 


Die  Straße  von  Sevres.     1855—65. 

0,45x0,60.     (Moreau.Nelaton  1464.) 

iParis,  Louvre. 

Photo  Hanfstaengl,  München. 


Bild,  in  dem  die  materielle  Farbe  zu  reinstem  Licht  kondensiert 
scheint  und  das  1873  gemalt  wurde.  Diesen  Werken  stelle  man 
noch  gewisse  Studien  zur  Seite,  wie  das  Haus  von  Semur^)  bei 
Durand=sRuel,  oder  den  Hof  mit  den  Hühnern^)  oder  den 
,,Beffroi  de  Douai"^)  und  hundert  andere,  ebenso  viele  Beispiele 
der  größten  Ursprünglichkeit,  der  reichsten  Kunst  eines  nur  der 
Natur  zugewandten  Malers. 

Alle  diese  Werke  entstanden  in  der  letzten  Zeit  und  soweit 
sie  die  Koloristik  betonen,  glaubt  man  in  ihnen  eine  deutliche 
Beziehung  zu  den  Künstlern  von  Barbizon  zu  finden,  denen  er 
vorher  so  fern  schien.  Es  ist  nicht  unmöglich,  daß  einer  der 
jüngsten  der  großen  Landschafterschule  und  vielleicht  der  be:= 
deutendste,  Daubigny,  an  dieser  Annäherung  beteiligt  war. 

Corot  war  mit  Daubigny  eng  befreundet.  Vielleicht  hatte 
er  schon  den  Vater  des  Landschafters  gekannt,  der  auch  Bertins 

')  L'cEuvre  de  Corot  Nr.  839  (1855-1860). 
2)  L'oeuvre  de  Corot  Nr.  2176  (1873). 
'')  L'oeuvre  de  Corot  Nr.  2004  (1871). 


89 


Schüler  und  ungefähr  gleichzeitig  mit  Corots  zweiter  italienischer 
Reise  in  Italien  war.  Daubigny  selbst  fing  in  der  dem  Meister 
vertrauteren  Art  an.  Auch  er  war  in  Italien,  anfangs  in  den 
Fußstapfen  der  Alten,  freilich  nicht  mit  dem  Erfolge  seines 
älteren  Freundes.  Er  stellte  1840  einen  ,,Hieronymus  in  der 
Wüste"  aus,  der  Corot  heimatlich  berührt  haben  mag.  Ein 
Dutzend  Jahre  später  trafen  sie  sich  in  der  Dauphine  und  halfen 
sich  offenbar  gegenseitig.  Daubigny  hatte  sich  inzwischen  von 
allem  Klassizismus  und  nicht  weniger  gründlich  als  Millet  aus 
den  Händen  seines  Lehrers  Delaroche  befreit.  In  Corot  glaubt 
man  seitdem  einen  energischeren  Pinselstrich,  eine  entschiedenere 
Koloristik,  etwas  von  der  saftigeren  Malerei  des  Jüngeren  zu 
spüren.     Seine  Flächen  fangen  an,  zu  leuchten. 

Im  Haager  Mesdag^Museum,  wo  Daubigny  ein  würdiger 
Altar  errichtet  wurde,  kann  man  die  beiden  gut  vergleichen. 
Die  Allee  Corots^),  in  ganz  reinem  fließenden  Grün,  mit  den 
blitzend  weißen  Flecken,  paßt  vortrefflich  zu  den  rapiden,  frei? 
lieh  nicht  so  rhythmischen  Skizzen  Daubignys  an  derselben  Stelle. 

Vorbereitet  wurde  diese  Periode  Corots  wahrscheinlich  durch 
Constable,  der  ja  allen  Franzosen  seinerzeit  die  stärksten  An? 
regungen  gab.  Corot  war  erst  1862  in  England,  kann  aber  vor? 
her  in  Paris  genug  Werke  des  Engländers  gesehen  haben.  „Le 
Gue",  das  ganz  frühe  Bild  mit  dem  belasteten  Leiterwagen  im 
Tümpel"),  hat  manche  äußerliche  Ähnlichkeit  mit  demHay  Wain, 
freilich  nichts  von  dem  Farbenauftrag  Constables.  Diesen  glaubt 
man  eher  in  manchen  Studien  der  vierziger  Jahre  angedeutet  zu 
finden.  So  in  dem  besten  Corot  des  Mesdag?Museums,  den 
,, Rosen*' ■^).  Freilich  hatte  Constable  nicht  die  unglaubliche 
Leichtigkeit,  mit  der  hier  die  riesigen  Felsen  dienstbar  gemacht 
werden,  nicht  die  Kühnheit  des  Standpunktes,  den  Corot  ganz 
tief  annahm,  um  die  steinerne  Masse  um  so  wirksamer  zu  machen, 
und  nicht  das  Spielende  der  Gestaltung,  die  das  ganze  Bild  wie 
eine  Illustration  erscheinen  läßt.  Prachtvoll  steht  der  kaffeebraune 
Ton  der  Felsen  zu  den  blaugrünen  Blättern  und  dem  blauen, 
graudurchzogenen  Himmel.    Deutlicher  kommt  eine  gewisse  Ver? 


^)  Katalog  des  Mesdag^Museums  Nr.  69,  datiert  1868. 

^)  L'oeuvre  de  Corot  Nr.  257,  aus  1832. 

*)  Katalog  des  Mesdag^Museums  65,  aus  1848  (L'oeuvre  de  Corot  Nr.  637). 

90 


91 


La  petite  Liseuse.     1855—65. 

0,65x0,50.     (Moreau.Nelaton  1378.) 

Sammlung  Kapferer. 


wandtschaft  der  Anschauung  mit  Constable  in  späteren  Studien, 
wie  z.  B.  dem  erwähnten  Haus  bei  Semour  zum  Vorschein,  das 
an  die  berühmte  Constable^Skizze  „A  deserted  mill*'  u.  a.  erinnert. 
Je  älter  Corot  wird,  desto  breiter  wird  der  Pinsel.  Nur 
ausnahmsweise  zeigt  sich  diese  stark  koloristische  Malerei  in 
großen  Formaten.  Er  reservierte  sie  für  seine  kleinen  Über? 
raschungen  in  der  Art  der  Bilder  des  Thomy  Thiery?  Saals. 
Größerer  Gemälde  hielt  er  nur  seine  gereimten  Poesien  für 
würdig  genug,  und  in  diesen  ist  der  Auftrag  immer  mehr  dem 


93 


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Büßende  Magdalena.     1855-60. 

0,44x0,55.     (Moreau=Nelaton  1047.) 

Sammlung  Durand^^Ruel,  Paris. 

Photo  Druet,  Paris. 


Tone  als  dem  Kontrast  unterworfen.  So  erhält  sich  sein  ganzes 
Leben  der  Dualismus,  den  wir  im  Anfange  fanden.  Seine 
Baigneuses  und  seine  Nymphen  verschönerten,  vergeistigten  den 
Klassizismus,  dem  er  in  der  Jugend  in  der  „Hagar"  den  Tribut 
gezahlt;  die  kleinen  Landschaften  zeigen  den  intimeren  Corot, 
der  sich  in  Rom  nicht  entschließen  konnte,  in  ein  anderes 
Museum  als  das  der  Natur  zu  gehen.  Der  eine  gab  dem  anderen, 
es  ist  derselbe  Mensch,  und  doch  wüßte  ich  kaum  ein  Bild,  in 
dem  sich  beide  Seiten  vollkommen  gelöst  haben.  Und  dieser 
Dualismus  enthält  die  beste  Abwehr  gegen  den  Vorwurf  eines 
bewußten  Manierismus.    Der  Manierierte  ist  immer  einseitig  und 


94 


versucht  vergebens,  seine  Schwäche  unter  der  Vielheit  der 
Gegenstände  zu  verbergen.  Gewiß  hat  Corot  manches  Bild  gQ^ 
malt,  in  dem  wir  heute,  wenn  wir  es  mit  den  Perlen  messen, 
nicht  die  Notwendigkeit  der  Schöpfung  erkennen.  Die  Sammlung 
Chauchard  ist  nur  zu  reich  an  solchen  überzähligen  Dingen. 
Er  trieb  seine  Kunst  nicht  mit  dem  Bewußtsein,  etwas  Außer:; 
ordentliches  zu  vollbringen.  Sie  gab  ihm  die  befriedigende 
Möglichkeit,  sich  mit  sich  selbst  und  seinen  Mitmenschen  zu 
unterhalten.  Er  pflegte  in  zehn  Bildern  zu  wiederholen,  was 
er  in  einem  sagte,  aber  die  Menge  hinderte  ihn  nicht,  nach 
lässigem  Geplauder  wieder  rüstig  vorwärts  zu  schreiten.  Ein 
Mensch,  der  zu  gleicher  Zeit  mehrere  Gestaltungsarten  beherrscht, 
kann  nicht  einseitig  genannt  werden.  Man  bemerkt  leicht,  daß 
sich  die  Anwendung  der  verschiedenen  Arten,  des  breiten  Strichs 
und  der  starken  Koloristik  auf  der  einen  Seite,  der  tonigen 
Malerei  mit  kleinen  Tupfen  auf  der  anderen,  nach  dem  Vorwurf 
richtete,  nach  dem  Eindruck,  den  er  empfangen  und  mitteilen 
wollte.  Die  nackten  Nixen  verlangten  eine  andere  Atmosphäre 
als  die  Bauern.  Der  Hymnus  an  das  schönere  Geschlecht  hatte 
stets  eine  geheime  Separatkammer  im  Herzen  Corots  und  in 
seinem  Werke. 

Im  Alter,  als  er  die  Sechzig  längst  überschritten  hatte,  brachte 
ihm  diese  Liebe  eine  neue  Gattung  von  Werken.  Wenn  ihm 
die  Frau  in  den  Landschaften  zuweilen  ein  Schnippchen  ge? 
schlagen  hat,  hier,  in  den  Werken  der  Spätzeit,  wo  sie  sich  allein 
behauptet,  werden  wir  den  Meister  auf  einer  seltenen  —  fast 
könnte  man  sagen,  einzigen  —  Höhe  finden. 


95 


Junge  Algerierin,  gegen  1872. 

0,40x0,60.     (Moreau.Nelaton  2140.) 

Photo  Durand^Ruel,  Paris. 


Die  beste  Zeit 

Corot  hat  über  zweiundeinhalbtausend  Bilder  gemalt.  Wir 
haben  versucht,  die  Arten  anzudeuten,  aus  Hunderten  Gruppen 
zu  bilden.  Viele  Arten  zogen  an  uns  vorüber,  Landschaften, 
Porträts,  Idyllen,  romantische  Szenen,  Odalisken,  badende 
Nymphen,  Kirchenbilder,  Fresken  und  immer  wieder  Land== 
Schäften,  eine  ganze  Kunstgeschichte.  Und  wo  man  glaubt,  am 
Ende  zu  sein,  wenigstens  die  einzelnen  Gattungen  aufgezählt  zu 
haben.  Da  erscheinen  wieder  Scharen  von  Bildern  mit  ganz  neuen 
Zügen,  die  sich  wieder  zu  einem  Ganzen  zusammenfinden,  einem 
neuen  Gesicht  unter  dieser  Fülle  von  Gesichten.  Wieder  sind 
Frauen  darunter,  umringt  von  allen  anderen  Arten  der  früheren 
Zeit,  aber  diese  Frauen  heben  sich  ab  von  dem  Haufen.  Schon 
daß  sie  Frauen  sind,  unterscheidet  sie.  Man  erinnert  sich  bei 
ihrem  Anblicke  nicht,  daß  Corot  je  vorher  eine  andere  Weib* 
lichkeit    als    kleine    flinke   Mädchen  in   nackter  Allerlieblichkeit 


96 


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^    *tj     <-■ 


97 


gemalt  hat.  Jene  sind  ernst  und  schweigsam,  man  weiß  gar 
nicht  mehr,  daß  Corot  früher  schweigsam  und  ernst  war.  Ge^ 
lassen  blicken  sie  den  Beschauer  an,  ein  wenig  nach  der  Seite, 
in  die  Ferne.  Nicht  traurig,  nichts  weniger  als  sentimental,  nach^ 
denklich  vielmehr  wie  klare  Menschen.  Sie  sind  noch  jung,  aber 
sie  sind  nicht  ihrer  Jugend  wegen  da;  das  Matronenhafte  der 
berühmten  Mandolinenspielerin,  die  früher  bei  Desfosses  war^), 
bekleidet  selbst  die  Mädchen  unter  ihnen.  Die  Italienerin,  die 
aus  einer  anderen  leichter  beherzten  Welt  hierher  kam,  hat  einen 
ernstsinnenden  Zug  bekommen.  Zuweilen  sind  sie  im  Freien 
am  Brunnen,  wie  in  dem  schönen  Bild  der  Sammlung  Behrens 
in  Hamburg^);  immer  allein,  in  Gedanken  versunken,  oder  ver^ 
träumt  auf  demselben  Pantherfell  ruhend,  auf  dem  andere  — 
vielleicht  waren  sie's  selber  einmal  —  ihre  nackten  Glieder  ge^ 
sonnt  haben.  Oder  es  sind  Frauen  mit  ihren  Kindern  in  ein* 
samer  Landschaft. 

Ein  ganz  anderer  Ton  spielt  in  diesen  Idyllen.  Er  scheint 
von  allem  Griechentum  der  früheren  Art  befreit.  Zwar  findet 
man  hier  und  da  eine  Griechin,  aber  es  ist  keine  tanzende 
Nymphe,  sondern  eine  verwundete  Eurydice^). 

Zum  erstenmal  treffen  wir  in  diesem  Kreise  die  Frau  im 
Hause.  Früher  war  es  fast,  als  gediehe  das  Weibliche  nur 
zwischen  Bäumen,  am  Weiher  im  betauten  Grase.  Nun  finden 
wir  die  Mädchen  in  stillen,  behaglichen  Zimmern.  Sie  haben 
Bücher  in  der  Hand,  ohne  zu  lesen,  oder  haben  sich  verstohlen 
mit  einer  Gitarre  vor  die  Staffelei  des  Künstlers  gesetzt,  ohne 
zu  spielen. 

Nichts  Griechisches,  eher  holländisch.  Aus  der  leichten 
Hülle,  wie  sie  in  den  elyseischen  Gefilden  getragen  wird,  ist 
das  adrette  bürgerliche  Kleid  geworden.  Die  Malerei  hat  sich 
angepaßt.  Wir  sind  weit  von  der  bequemen  Nebelstimmung 
der  Nymphenlandschaften.     In  reichen   Farben  heben   sich   die 


^)  L'oeuvre  de  Corot  Nr.  1060.  Eines  der  feinsten  und  vollendetsten 
Bilder  dieser  Art  (Robaut  legt  es  zwischen  1850  und  1855),  von  unbeschreib* 
lieber  frauenhafter  Liebenswürdigkeit  im  Ausdruck. 

'^)  L'oeuvre  de  Corot  Nr.  1343,  wohl  die  schönste  Fassung  dieses  drei; 
mal  gemalten  Motivs. 

3)  L'oeuvre  de  Corot  Nr.   1999-2001. 

7* 
99 


Gestalten  von  den  wohnlichen  VC'änden  der  Zimmer  ab.  Die 
Kunst,  die  Atmosphäre  zu  schildern,  zeigt  auch  hier  ihre  Reize, 
aber  sie  rechnet  mit  dem  Koloristen.  Klare  Farbenharmonien 
leben  in  den  Bildern.  Sie  spiegeln  die  ruhige  Besonnenheit 
dieser  Menschen  und  ihres  Schöpfers  wieder. 

Hier  kommt  endlich  mit  unübersehbarer  Deutlichkeit  der 
unmittelbare  Einfluß  desselben  Landes  zum  Vorschein,  das  von 
den  Malern  von  Barbizon  entdeckt  worden  war.  Aber  auch 
jetzt  noch  setzt  sich  Corot  ganz  anders  mit  Holland  auseinander 
als  die  Reihe  von  Rousseau  zu  Daubigny.  Wohl  ist  der  Einfluß 
sichtbarer  als  in  dem  Idylliker  Corot,  der  sich  auf  die  alten 
Beziehungen  zwischen  den  beiden  Malschulen  erinnerte;  aber 
gleichzeitig  offenbart  er  die  tiefere  Durchdringung  des  hollän^ 
dischen  Geistes.  Wieder  läßt  Corot  alles  mitwirken,  was  ihm 
die  französische  Tradition  schenkte,  und  bereichert  seine  Synthese 
nur  mit  den  kostbarsten  Werten.  Die  anderen  erbauten  sich 
an  dem  Kreise  Ruysdaels.  Corot  geht  zu  den  beiden  Größten 
neben  Hals:  zu  Rembrandt  und  Vermeer. 

Die  Instinktverwandtschaft  mit  Rembrandt  ist  im  ganzen 
Werke  Corots  zu  spüren,  und  sie  beweist,  wie  frei  man  seinen 
Klassizismus  auffassen  muß,  um  solche  Gemeinschaft  verstandst 
lieh  zu  finden.  Sie  half  ihm  zu  der  lockeren  Form.  In  dem 
Hl.  Sebastian  steckt  etwas  von  dem  Christ  an  der  Säule  der 
Sammlung  Carstanjen,  und  als  die  Düsseldorfer  Ausstellung  die 
merkwürdige  Idylle  Rembrandts  bei  dem  Fürsten  Salm  ^  Salm 
,, Diana  und  Aktäon'")  brachte,  hätte  man  glauben  können,  selbst 
auf  diesem  Felde  eine  entfernte  Verwandtschaft  zu  finden.  Corot 
ist  immer  zierlicher,  nicht  nur  in  der  Form,  im  Maßstab,  auch 
in  der  Erfindung  seiner  Mittel.  Ganz  rembrandthaft  wirken  die 
winzige  thronende  Frau,  früher  in  der  Sammlung  Rouart'-),  und 
der  dunkle  „Fasseur",  bei  Frau  Desfosses.  In  dem  Rouartschen 
Bildchen  erreicht  Corot  im  kleinen  Format  mit  einer  ans  Fabel? 
hafte  grenzenden  Abstufung  des  Graus  eine  ähnliche  Majestät 
der  Erscheinung,  die  wir  in  größter  Pracht  in  Rembrandts  Delila 
oder  dem  Mahl  der  Esther  und,  weniger  gespenstisch,  in  ge? 
wissen  Porträts,  wie  der  Dame  mit  dem  Fächer,  bei  dem  Herzog 

^)  Bode,  Rembrandt.Werk  Nr.  196. 

-)  Aus  dem  Jahre  1869,  laut  dem  Katalog  der  Ventc  Corot. 

100 


Sitzende  Frau  mit  aufgelösten  Haaren.     1860—70. 

0.38x0,27.     (Moreau.Nelaton  1384.) 

Photo  Druet.  Paris. 

Früher  Sammlung  Henri  Rouart,  Paris. 


101 


von  Westminster ,  finden.  Das  letzte  Bild  hat  Corot  übrigens 
bei  seinem  Aufenthalt  in  London  im  Jahre  1862  gesehen. 

Acht  Jahre  vorher  war  er  mit  Dutilleux  in  Belgien  und 
Holland  gewesen.  Nach  den  Aufzeichnungen  des  Freundes 
hatte  er  nicht  viel  für  die  Anatomie  und  die  Nachtwache  übrig, 
aber  bewunderte  die  Tuchmacher,  und  sicher,  obwohl  davon 
nichts  verlautet,  dürften  ihm  damals  die  holländischen  Interieur^: 
maier  näher  gekommen  sein.  Denn  kurz  nach  seiner  Reise  malte 
er  die  beiden  merkwürdigen  Bilder,  die  in  den  fünfziger  Jahren 
ganz  allein  stehen:  „Die  Küche  in  Mantes"  und  „das  Zimmer 
in  Mas^Bilier"^).  Die  Intimität,  mit  der  er  die  Landschaft 
wiederzugeben  pflegte,  zog  hier  aus  dem  typisch  holländischen 
Genre  einen  vollkommen  neuen  Reiz.  Wie  anders  leben  in  dem 
Corotschen  Raum  die  Menschen  und  Dinge,  als  in  den  schön 
gepinselten  Musterzimmern  des  Pieter  de  Hooch.  Der  hollän^ 
dische  Modemaler  gibt  mit  angenehmen  Farben  und  sauberem 
Auftrag  ein  Bild  von  höchster  Gefälligkeit.  Auch  das  Licht 
ist  nur  dazu  da,  um  die  Zimmer  zu  möblieren.  Corot  macht 
aus  der  Farbe  den  Stoff  des  Zimmers,  aus  dem  Licht  die  At:= 
mosphäre,  und  aus  dem  Ganzen  ein  Stückchen  Leben,  in  das 
man  unbemerkt  hineinschaut. 

Auf  diese  Kunst,  die  er  damals  rein  zufällig  und  ganz  vor? 
übergehend  unternommen  hatte,  griff  er  später,  als  das  Behagen 
des  Zimmers  dem  Alter  näher  rückte,  mit  größter  Meisterschaft 
zurück.  Die  Form,  die  früher  im  Dämmerlicht  des  Morgens 
und  Abends  verschwamm,  aus  hundert  schwebenden,  versteckten, 
verwobenen  Flecken  und  Fleckchen  zusammengesetzt,  trat  jetzt 
in  den  von  der  Zimmerluft  umgebenen,  großen  Einzelfiguren 
mächtig  hervor  und  forderte  von  Corot  alle  Gaben  eines  sicheren 
Pinsels   und  einer  starken  Koloristik.     Man  begreift  kaum,   wie 


^)  L'oeuvre  de  Corot:  Interieur  Rustique  au  MassBilier,  Nr.  824  (Samm? 
lung  Moreau,  Louvre)  und  Interieur  de  Cuisine  ä  Mantes  Nr.  826,  bei  Durand? 
Ruel.  Robaut  legt  das  erstere  zwischen  1850  und  1860.  Es  ist  aber  wohl 
nicht  vor  1854  gemalt  worden.  Laut  einem  Brief  Lacroix'  entstand  es  aus 
einem  äußeren  Anlaß,  weil  der  Regen  am  Ausgehen  hinderte,  und  wurde 
genau  nach  der  Natur  gemalt  (vgl.  darüber  im  ersten  Band  des  Oeuvre  de 
C,  S.  266).  Das  andere  Bild  legt  Robaut  zwischen  1855  und  1S60.  Vorher 
hat  Corot  nie  Interieurs  gemalt. 

103 


der  Siebzigjährige,  nach  der  ungeheuerUchen  Arbeit,  der  kaum 
übersehbaren  Vielseitigkeit,  zu  dieser  schwersten  Aufgabe,  die 
er  sich  je  gestellt  hatte,  die  Kraft  fand.  Die  ersten  Einzelfiguren 
dieser  Art  fallen  noch  ungefähr  in  die  Zeit  der  beiden  Interieurs. 
Es  waren  Atelierstudien  nach  neapolitanischen  Modellen,  in  der 
Pose  den  ersten  römischen  Frauenbildern  der  zwanziger  Jahre 
ähnlich,  nur  von  ganz  anderer,  unendlich  reiferer  und  kühnerer 
Kunst.  Cheramy  besaß  eine  Italienerin,  in  der  die  ganze  Palette 
zum  Vorschein  kommt  ^);  das  Schwarz  und  Weiß  im  Haar  und 
im  Kopftuch,  das  Fahlgelb  in  dem  Teint  mit  violettgrauen 
Schatten,  das  Rot  in  der  Bekleidung  des  Rückens  und  in  der 
rot^weiß  gestreiften  Schürze,  das  Violettbraun  in  den  Ärmeln, 
und  vor  allem  das  starke  Blau  in  dem  Rock;  dasselbe  Blau,  das 
er  später  zu  einem  wahren  Triumph  der  Farbe  ausbaute.  Diese 
Italienerin  sitzt  am  Boden  in  natürlicher  Haltung,  den  einen  Arm 
auf  eine  Amphora  gestützt,  Hände  und  Füße  lässig  verschlungen. 
Die  Farben  haben  etwas  von  derselben  Natürlichkeit.  Sie  ge*= 
hören  so  selbstverständlich  zu  dem  Kleid,  wie  das  Kleid  das 
Mädchen  einhüllt,  weil  eine  höchst  raffinierte  Abstufung  der 
Töne  die  Kontraste  vermittelt.  Die  Degradation  wird  später 
immer  kunstvoller  und  gestattet  die  Ausdehnung  des  Formats 
und  des  Ausdrucks.  Schon  in  der  etwas  späteren  Femme  ä  la 
pensee"-),  die  den  Kopf  auf  die  eine  Hand  stützt  und  in  der 
anderen  eine  Blume  hält,  kommt  das  eigentümlich  Gewirkte 
zum  Vorschein,  das  so  vielen  Einzelfiguren  Corots  die  schöne 
Wärme  gibt.  Auch  in  diesem  Genre  von  Bildern  wird,  je 
älter  Corot  wurde,  dem  Pinselstrich  und  der  Farbe  immer 
mehr  die  Rolle  anvertraut,  die  vorher  die  umhüllende  Ton*= 
kunst  gespielt  hatte.  Man  kann  das  am  besten  bemerken,  wenn 
man  die  sechs  Darstellungen  seiner  Frau  vor  der  Staffelei  mit^ 
einander  vergleicht'^).  Sie  beginnen  um  das  Jahr  1865  und  enden 
mit  der  Frau  im  schwarzen  Sammetrock  des  Lyoner  Museums, 
aus  1870.  In  den  früheren  scheint  Corot  mehr  am  reinen  Umriß 
zu  haften,  an  der  schönen  Erscheinung  im  Raum,  den  er  mit 
kühler  Sanftheit,  in  blonden  Tönen  darstellt.    Das  Gemälde  bei 


')  L'oeuvre  de  Corot  Nr.  1037. 
-)  L'cEuvre  de  Corot  Nr.  1041. 
'■)  L'oeuvre  de  Corot  Nr.  1557-1561, 

104 


Bäuerin  an  der  Quelle.     1860—65. 

0,74x0.48.     (Moreau.Nelaton   1512.) 

Photo  DurandsKuel,   Paris. 

105 


Träumerei.     1860—65. 

0,50x36.     (Moreau.Nelaton  1422.) 

Photo  DurandsRuel,  Paris. 


106 


Träumerei  1865—70. 

0,95x0,68.     (Moreau.Nelaton   1431.) 

Photo  Durand.Ruel,  Paris. 


10/ 


Frau  Esnault^Pelterie,  mit  dem  schönen  Rosa  des  Rockes,  ist 
eine  meisterliche  Paraphrase  der  holländischen  Interieur^Malerei, 
aber  weicher,  fließender,  freier  als  das  Genrebild  der  Spezialisten 
des  17.  Jahrhunderts.  In  der  Lyoner  Variante  dagegen  dringt 
er  wie  Rembrandt  immer  mehr  in  das  Innere  der  Materie,  teilt 
das  früher  Zusammengehaltene,  selbst  auf  Kosten  der  Modell 
lierung,  ist  mehr  Architekt  als  Dekorateur  und  schafft  ein  ganz 
und  gar  neuzeitiges  Werk.  Es  steht  nicht  allein.  In  vielen 
Frauenbildern  derselben  Zeit,  die  Porträts  scheinen  und  nach 
Modellen  gemacht  wurden,  finden  wir  dieselbe  Malerei.  Durand^ 
Ruel  besaß  eines  der  schönsten,  das  Kniestück  eines  Mädchens 
von  unbeschreiblichem  Ausdruck,  genannt  „la  jeune  Grecque"^). 
Es  ist  so  einfach  und  selbstverständlich  wie  das  Mädchen  Rem^: 
brandts  in  Stockholm,  fast  möchte  man  hinzufügen,  ebenso  un^ 
begreiflich  meisterlich.  Rembrandt  strich  das  Gesicht  und  das 
Kleid  in  größeren  Strichen  hin  und  verwandte  eine  stärkere 
Koloristik.  Aber  man  ist  geneigt,  diesen  Unterschied  nicht  auf 
eine  Differenz  des  Könnens,  sondern  die  Verschiedenheit  der 
Temperamente  zu  schieben,  die  natürlich  unüberbrückbar  ist. 
Die  kleine  Emma  Dobigny,  das  Modell  jenes  Bildes,  gibt  so 
gut  den  Typ  Corots  wie  die  sogenannte  Köchin  oder  die  Hen* 
drickje  Stoffels  den  Rembrandts.  Wir  fühlen  darin  gleich  deut^ 
lieh  die  Anschauung  des  Meisters,  ja  seine  Auffassung  des  Lebens. 
Keine  Philosophie.  Es  sind  fleischgewordene,  restlose  Formen 
der  Empfindung.  Corot  gab  in  seinem  Bild  —  und  in  vielen 
anderen  —  das  Nachdenkliche  der  Frau,  das  sich  nicht  in  Ge^ 
danken  vollzieht,  sondern  in  den  Sinnen  bleibt,  das  Träumen 
ohne  festen  Inhalt.  Frauen  —  und  zumal  die  des  Südens  — 
sind  deshalb  so  gute  Vorbilder  für  Maler  und  Bildhauer,  weil 
ihre  ganze  Wesensart  durch  das  Formale  erschöpft  wird.  Sie 
denken,  leben,  schaffen  Formen,  sind  unversengt  von  der  In* 
tellektualität,  die  den  Mann  nach  innen  zieht  und  sein  Äußeres 
verkümmern  läßt.  Sie  leben  noch  animalisch,  und  da  sie  das 
Animalische  mit  ihren  Instinkten,  nicht  mit  denen  des  Mannes 
kultivieren,  vermeiden  sie  das  Häßliche  unserer  verborgenen, 
ungepflegten  Animalität.     Corots  Mädchen  ist  überlegene  Natur. 


')  L'oeuvre  de  Corot,  Nr.  1995  (1868-1870). 

108 


•^      ^     rT- 


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109 


Der  Kirchweg  in  Marissel.     1860—70. 
0.43x0,28.     (Moreau^Nelaton  1371.) 


111 


Kein  Hauch  von  Sentimentalität  oder  Genre  ?  Dichtung  trübt 
die  Keuschheit  der  Konzeption,  Das  Bild  scheint  von  einem 
Wunderspiegel  wiedergegeben,  den  sich  das  Mädchen  —  nicht 
der  Künstler  —  vorhält.  Auch  Rembrandts  Kleine  im  Fenster 
im  Stockholmer  Museum  ist  nachdenklich.  Aber  sie  zeigt,  ohne 
zu  w^ollen,  all  die  natürliche  Rassen* Energie,  die  selbst  dann 
nicht  schläft,  wenn  sie  nicht  gebraucht  wird.  Sie  ist  immer  auf 
dem  Qui^Vive,  horcht  nach  außen.  Hier  spinnt  sich  der  Traum 
in  bestimmtere  Gedanken  ein,  die  das  Fleisch  anspannen.  Das 
gibt  die  Kunst  Rembrandts  so  gut  wie  Corots  Malerei  die  Art 
seines  Modells.  Die  kleine  Emma  Dobigny  war  eine  echte 
Pariserin,  und  trotzdem  hatte  man  recht,  das  Bild  „La  jeune 
Grecque"  zu  taufen.  Alles  was  man  darüber  in  wenigen  Worten 
sagen  könnte,  beruht  in  dieser  Bezeichnung.  Es  ist  griechisch 
empfunden,  in  einer  noch  höher  stehenden  Art  als  das  der 
gleichen  Welt  zugewandte  Märchenspiel  Corots.  Und  diese 
Empfindung  entscheidet  gegen  die  Ähnlichkeit  mit  dem  großen 
Holländer.  Was  zu  der  Annäherung  verlockt,  ist  zumal  die 
Analogie  der  Entwicklungen,  beider  Übergang  vom  Ton  zur 
Farbe,  von  der  Hülle  zum  Kern.  Nur  eine  der  vielen  Häute, 
von  denen  man  sich  die  Persönlichkeit  eines  großen  Künstlers 
umgeben  denken  kann,  zeigt  die  Verwandtschaft  Corots  mit 
Rembrandt.  Darunter  bleibt  derselbe  Mensch,  der  nach  Rom 
ging,  um  seine  Landschaften  zu  lernen.  Wieviele  der  Häute 
man  auch  finden  mag,  immer  fühlt  man  den  Kern  hellenischer 
Empfindung.  Und  dieser  wirksame  Kern  ist  auch  der  Grund  der 
merkwürdigen  Erscheinung,  daß  unsere  Erinnerung  vor  diesen 
reifsten  Schöpfungen  Corots  von  Rembrandt  zu  einem  anderen 
Meister  pendelt,  der  dem  Holländer  so  entgegengesetzt  wie  mög* 
lieh  erscheint,  zu  Ingres.  Wir  bleiben  auch  hier  nicht  haften. 
Es  wird  sich  herausstellen,  daß  ein  tieferes  Eindringen  in  die 
reiche  Entwicklungswelt  Corots  uns  wieder,  wenn  nicht  zu  Rem* 
brandt,  wenigstens  in  seine  Nähe  zurückbringt. 

Nicht  mehr  der  Schöpfer  der  Odalisken  steht  hier  vor  uns, 
nicht  der  Maler;  der/Zeichner  Ingres  vielmehr,  der  mit  kleinerem 
Mittel  Größeres  vollbrachte,  der  auch  seine  Gesichter  wie  ge* 
hauchte  Empfindungen  in  schlichter  Menschlichkeit  und  doch 
von  aller  menschlichen  Last  entkleidet  darstellte.    Der  Bourgeois 

112 


113 


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Ingres,  der  ein  göttlicher  Dichter  war.  Ich  meine  seine  unwahr^ 
scheinHche  Plastik  und  verstehe  darunter  nicht,  daß  er  ein  Ding 
rund  in  den  Raum  zu  setzen  wußte,  sondern  nur  das  Rund;  und 
mit  dem  Rund  meine  ich  das  Hineinwachsen  einer  Macht  ins 
Jenseits,  den  Griff  einer  Hand,  die  wir  nicht  sehen,  von  der 
nur  die  Wirkung  bleibt,  das  Hineingetriebene,  Auseinanderge^ 
bogene,  dem  unsere  Blicke  nachjagen  wie  der  Öffnung  des 
Wassers  unter  dem  Kiele.  Diese  unbegreifliche  Plastik  ist  auch 
in  den  Frauengesichtern  Corots.  Die  jeune  Grecque  ist  ein 
Mädel,  wie  man  es  alle  Tage  sehen  kann,  so  wahrscheinlich 
wie  möglich.  So  blickte  es  ganz  gewiß,  hielt  sich  so,  ein  gut^ 
mutig  verträumtes  Geschöpf  mit  einem  possierlichen  Hang  zum 
Ernst,  das  richtige  junge  Mädchen.  Und  bei  aller  Einsicht  in 
dieses  Dasein  lockt  uns  eine  unsichtbare  Gewalt,  mehr  aus  dem 
Gesicht  herauszusehen.  Nichts  Psychologisches,  nichts  zum  An* 
dichten;  mit  alledem  bleibt  das  Merkwürdige  immer  noch  un* 
berührt,  fassen  wir  nicht  das  zweite  Gesicht  der  Physiognomie. 
Das  etwa  fühlen  wir  darin:  aus  dem  Profil  wächst  scheinbar 
ein  zweites  heraus,  oder  vielmehr,  es  schwebt  dem  andern  vor 
in  kaum  sichtbaren  Kurven;  ein  Profil,  das  gar  nichts  Mensch* 
liches  hat,  sondern  ein  Zeichen  ist,  ein  Kreis,  eine  Ellipse  im 
Raum,  etwas  Kugelhaftes.  Dieses  Gedachte,  eine  vollkommen 
regelmäßige  Form,  die  man  mit  einem  simplen  Wort  benennen 
zu  können  glaubt,  bleibt  rätselhaft,  weil  es,  obschon  greifbar 
vorhanden,  doch  nur  in  der  Einbildung  existiert  und  Einbildung 
bleiben  muß,  in  Wirklichkeit  von  einem  uns  anblickenden 
Mädchen  mit  Augen,  Nase,  Haaren,  Mund  höchst  unfreiwillig 
gebildet.  Der  sphärenhafte  Ersatz  des  Natürlichen  durch  eine 
abstrakte  Form,  zu  der  uns  der  Künstler  drängt,  ist  seine  Kunst, 
und  nie  hat  sie  Corot  tiefer  und  merkwürdiger  erreicht  als  in 
diesen  Bildern.  Ein  Pendant  ist  die  Femme  ä  la  perle  ^),  vielleicht 
noch  mysteriöser  als  die  kleine  Griechin,  nicht  ganz  so  einfach. 
Hier  ahnt  man  die  volle  Bewußtheit  des  Künstlers,  zu  einer  Form 
zu  gelangen,  die  wir  der  Einfachheit  halber  antik  nennen  wollen. 
Neben  dem  durchaus  Organischen  der  Natur  tritt  das  Konstruk- 
tive   des    Zeichens    ganz    unmittelbar   hervor.      Sobald   wir   aufs 

*)  L'oeuvre  de  Corot  Nr.   1507.     Früher  bei  Dollfuß,  jetzt  im  Louvre. 

117 


Orpheus  begrüßt  das  Licht.     1865. 

1,35x2.     (Moreau.Nelaton  1634.) 

Sammlung  Durand-Ruel,  Paris. 

Photo  Druet,  Paris. 


118 


Der  Fischer. 

0,46  X  0,37,5. 
Sammlung  Dcsfosses,  Paris. 
Photo  DurandjRuel,   Paris. 


119 


einzelne  gehen,  erkennen  wir  auch  die  Brücken,  sehen,  daß  die 
Wölbung  vom  Auge  zur  Stirn  in  Wirklichkeit  nicht  so  sein 
kann,  daß  die  Nase  im  Porträt  ganz  etwas  anderes  ist  als  die 
Erhöhung,  die  sich  in  der  Natur  zwischen  Mund  und  Augen 
befindet,  und  bleiben  doch,  sobald  wir  dieses  andere  fassen 
wollen,  immer  wieder  bei  dem  höchst  wahrscheinlich  Abgemalten 
haften.  Und  nun  begreifen  wir  auch  den  größeren  Reichtum 
Corots  im  Vergleich  mit  Ingres.  Das  notgedrungene  Zurück:« 
zucken  der  Betrachtung  in  das  dargestellte  Abbild  von  der  Natur 
als  solcher  ist  bei  Corot  stärker.  Wir  bleiben  bei  Ingres  leichter 
an  der  Arabeske  hängen,  zumal  in  den  Odaliskenbildern.  Deren 
Schönheit  ist  über  jedes  Lob  erhaben  und  wird  hier  nicht  in 
Frage  gezogen.  Aber  Corots  menschlichere  Gestalten  lehren 
uns,  das  Jenseits  der  eng  begrenzten  Sphäre  Ingresscher  Kunst 
zu  erkennen.  Wir  bemerken  leicht,  daß  das  schart  Umzirkelte 
des  Klassischen  weicht,  sobald  wir  uns  Ingres'  Porträts  zu^ 
wenden,  und  daß  sich  das  ganze  Verhältnis  ändert,  sobald 
wir  an  Stelle  des  Malers  den  Zeichner  nehmen.  Ingres'  Zeich== 
nungen  sind  deshalb  soviel  wert,  weil  sie  die  Form  restlos  in 
die  Materie  aufgehen  lassen.  Alle  den  Maler  hemmenden  Be^s 
schränkungen  fallen  hier  fort.  Die  natürliche  Reduktion  der 
Palette  auf  das  Grau  und  Weiß  des  Bleis  und  Papiers  läßt  keine 
Reste.  Bei  dem  Maler  Ingres  empfangen  wir  wohl  eine  höchst 
präzise  Form,  aber  nicht  mit  gleicher  Bestimmtheit  den  Doppel* 
schlag  aus  Zeichen  und  Natur,  der  unsere  höheren  Deutungs* 
kräfte  spannt.  Der  Autor  der  Femme  ä  la  perle  dagegen  ver* 
stärkt  diesen  Impuls.  Er  wirkt,  grob  gesprochen,  doppelt;  natürlich 
ohne  das  Doppelte  der  spezifisch  Ingresschen  Wirkung  zu  treffen. 
Die  Schönheit  der  Femme  ä  la  perle  besteht  nicht  allein  in  dem 
vollen  Oval  des  Gesichtes,  in  der  herrlichen  mit  größter  Meisterst 
Schaft  modellierten  Pose,  dem  Gleichmaß  der  übereinanderge* 
legten  Hände  und  der  Wirkung  dieser  schön  geformten  Masse 
vor  dem  Hintergrund,  sondern  auch  in  dem  Blühen  des  Fleisches, 
über  das  sich  ein  aus  herrlichen  Farben  gewirkter  Stoff  legt;  vor 
allem  aber  darin,  daß  die  ganze  Form  aus  einem  Gewebe  ge* 
schaffen  wurde,  das  dem  Zusammenhang  der  Teile  eine  minde? 
stens  ebenso  wichtige  Stütze  verleiht  als  die  Arabeske. 

Die    Erkenntnis    des    Vorzugs    entspringt   nicht    etwa    einer 

120 


Femme  a  la  perle.     1868—70. 

0,70x0,54.     (Moreau.Nelaton   1507.) 

Louvre,  Paris. 

Photo  Braun  &.  Cie.,  Dornach. 


121 


Reaktion  des  Geschmacks.  Dieser  kommt  hier  nicht  in  Betracht. 
Die  Regeln  des  Geschmacks,  von  Ingres  stets  subUm  erfüllt, 
entsprechen  nur  relativen  Forderungen.  Vielmehr  wirkt  in  Corot 
die  größere  Einsicht  in  die  Bedingungen  der  Malerei,  eine  Ein^ 
sieht,  die  uns  nicht  durch  die  Konsequenz  ihrer  Logik  besticht, 
als  Verstandessache  überhaupt  nicht  mitspricht,  sondern  selbst^ 
tätig  unsere  Kritik  beeinflußt,  weil  uns  ihre  Resultate  durch  die 
Entwicklungsgeschichte  gewohnt  geworden  sind.  Daher  ent? 
behren  wir  selbst  bei  vollkommener  Schätzung  des  individuellen 
Aufbaus  eines  Ingresschen  Werkes  und  finden,  daß  Corot 
größere  Vorteile  gewinnt.  Er  nützt  das  Material  besser  aus. 
Die  Entscheidung  wäre  ungerecht,  wenn  Corot  sich  prinzipiell 
anderer  Materialien  bediente  und  z.  B.  wie  Manet  malte,  der  auf 
Unterdrückung  der  Modellierung  drang.  Das  ist  nicht  der  Fall. 
Corots  Frauenbilder  zeigen  eine  wunderbare  Plastizität.  Sie  ist  es 
ja  allein,  die  uns  überhaupt  auf  Ingres  bringt,  ganz  wie  Ingres 
Corot  darauf  brachte.  Er  zeigt  dies  und  ein  Plus,  vervielfacht 
die  Möglichkeiten,  ohne  die  engeren  Zwecke  des  Klassizisten 
hintenanzusetzen;  nicht  dadurch,  daß  er  das  Plastische  steigert, 
aber  durch  reichere  Erfüllung  derselben  Absicht,  der  das  Plastische 
dient.  Er  macht  es  wirksamer  als  Ingres.  Wir  haben  bei  Corots 
Bildern  mehr  Teile  zusammenzuziehen.  Die  Sprünge  unserer 
Phantasie,  die  Hebel  des  Genusses,  sind  größer  und  trotzdem 
ebenso  sicher.  Ja,  sie  sind  sicherer,  denn  das,  was  unserem  Gefühl 
für  Wahrscheinlichkeit  zugemutet  wird,  ist  bei  Corot  geringer, 
weil  die  Träger  der  Wirkung  zahlreicher  sind.  Wir  genießen  hier 
die  Kombination  des  Ideals  des  Plastischen  in  der  Art  der  Antike, 
das  bei  Ingres  überwiegt,  mit  dem  Ideal  des  Flächigen  in  der  Art 
Rembrandts.  Ingres'  absoluter  Verzicht  auf  das  Rembrandtsche 
Ideal  erscheint  nicht  als  Lücke  innerhalb  seiner  Art.  Er  tönt 
mit  bewunderungswerter  Treffsicherheit  seine  Flächen,  —  nichts 
ist  verkehrter,  als  ihn  in  diesem  Sinne  einen  schlechten  Koloristen 
zu  nennen.  Corot  aber  erreicht  dieselbe  relative  Reinheit  innere 
halb  seiner  Mittel  und  mehr  mit  dem  Mittel,  weil  er  nicht  nur 
tönt,  sondern  malt. 

So  nähern  wir  uns  wieder  Rembrandt.  Wohlverstanden, 
dieser  Name  dient  jetzt  nur  einem  geläufigen  Begriff,  dem 
Malerischen  durch  Anwendung  differenzierter  Teilung,  und  soll 

123 


die  Stellung  Corots  nur  ganz  summarisch  begrenzen.  Daher 
kümmert  uns  hier  nicht,  was  man  erwidern  könnte,  daß  Rem:* 
brandt  zuletzt  in  seiner  Art  so  einseitig  vorging  wie  Ingres  in 
der  seinen,  und  daß  das  eine  Extrem  nicht  gegen  das  andere 
ausgespielt  werden  dürfe.  Denn  abgesehen  von  der  Schiefheit 
solcher  Erwiderung,  die  das  in  der  Natur  der  Malerei  als  solcher 
tiefbegründete  Ideal  gegen  ein  durchaus  abgeleitetes  und  aller 
natürlichen  Vorzüge  entbehrendes  setzt,  haben  wir  uns  zu  er^ 
innern,  daß  Corot  durchaus  nicht  extrem  war.  Rembrandts  Genie 
verlangte  die  Einseitigkeit,  die  er  zuletzt  erreichte,  Ingres'  Genie 
die  seine.  Corot  erweist  gerade  in  der  Kombination  sein  Genie 
und  kann  daher  weder  mit  dem  einen,  noch  dem  anderen  ver^ 
glichen  werden,  wenn  man  ihn  erschöpfen  will.  Beide  zeigen 
die  Extreme  von  Arten,  die  sich  in  Corots  Werke  vereint  finden. 

Begnügen  wir  uns  hier,  bevor  wir  die  Analyse  weiter  zu 
treiben  versuchen,  mit  der  Konstatierung  der  auffallenden 
Steigerung  des  Niveaus,  auf  dem  die  Werte  Corots  diskutiert 
werden,  je  näher  wir  dem  Ende  kommen. 

Man  könnte  aufstellen,  daß  ein  Künstler  um  so  mehr  wert 
ist,  je  größer  die  Bedeutung  der  überlieferten  Werte  ist,  die 
sein  Werk  zum  erneuten  Bewußtsein  bringt.  Das  klingt  paradox, 
ist  doch,  so  glaubt  man,  das  Werk  des  Autors,  nicht  der  anderen 
wegen  da;  und  zumal  bei  der  modernen  Kunstbetrachtung,  wie 
sie  in  Deutschland  üblich  ist,  hätte  die  Formel  kein  Glück.  Wo 
die  Regel  herrscht,  die  Empfindung  von  der  Kunst  in  Benebelung 
des  Bewußtseins  umzusetzen,  wird  jedes  Moment,  das  der  Analyse 
den  Vergleich  nahelegt,  störend.  Wo  der  Wunsch  herrscht,  über 
die  Empfindung  zur  Klarheit  zu  gelangen,  und  die  Empfindung 
stark  genug  ist,  auch  bei  vollem  Bewußtsein  des  Betrachters  zu 
bestehen,  wird  die  vergleichende  Analyse  nicht  nur  Wissenschaft^ 
lieh  fördern,  sondern  den  Genuß  mitbestimmen.  Erreicht  das 
neue  Werk  nichts  als  eine  Erinnerung  an  alte  Werke,  so  ist  es 
Plagiat  und  scheidet  aus.  Wenn  aber  die  Erinnerung  die  neue 
Gabe  nicht  auslöscht,  sondern  im  Werte  erhöht,  nicht  weil  das 
neue  über  dem  alten  steht,  sondern  weil  die  vom  alten  hervor:« 
gerufene  Bewegung  großer  seelischer  Komplexe  hier  einen  neuen 
Ansporn  erfährt,  so  identifiziert  sich  die  Erinnerung  mit  dem 
Genuß  und  symbolisiert  zum  mindesten  die  Freude,  die  uns  das 

124 


Lesender  Mönch.     1865. 

0,74x0,50.     (Moreau.Nelaton  1332.) 

Sammlung  A.  Robaut,  Paris. 

Photo  Braun  6^  Co.,   Dornach. 

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neue  bereitet.  Die  Sichtbarkeit  von  Momenten,  die  den  Ver^ 
gleich  herausfordern,  steht  infolge  unserer  Unfähigkeit,  das  Werk 
ganz  zu  erforschen,  nicht  fest.  Daß  solche  Momente  immer  vor? 
banden  sein  müssen,  daran  kann  nur  zweifeln,  wer  die  Kunst 
als  Willkür  betrachtet. 

Die  Werke  der  anderen,  die  Corot  vor  unserem  Geiste  er? 
stehen  läßt,  machen  ihn  nicht  kleiner.  Wir  gelangen  mit  ihnen 
zur  Bestimmung  des  Reiches,  in  dessen  weitgezogenen  Grenzen 
der  Thron  seiner  Kunst  emporragt.  Wie  Zeichen  im  Walde 
sorgen  sie  dafür,  daß  wir  den  Weg  nie  wieder  verlieren  können. 


Castel  Gandolfo.     1865-68. 
0,65x0,81.     (Moreau.Nelaton  1626.) 
Paris,  Louvre. 
Photo  Hanfstaengl,  München. 


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Mantes.     1865-70. 
0,51x0,32.     (Moreau^Nelaton  1522.) 
Museum  in  Reims. 
Photo  Braun  6^  Co.,  Dornach. 
130 


Die  Badenden.     1865-70. 

0,80x0,54.     (Moreau::Nelaton  1653.) 

Früher  Sammlung  Henri  Rouart,  Paris. 


131 


Dame  an  der  Staffelei.     1865-68. 

0,62x0.40.     (Moreau.Nelaton   1558.) 

Sammlung?  Widener.   Philadelphia. 

Photo  Durand^Ruel,   Paris. 

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Porträt  einer  Dame  als  Italienerin.     1865- 

0,78x0.58.     (Moreau.Nelaton  1573.) 

Sammlung  M.  Bessonneau. 

Photo  Durand^Ruel,  Paris. 

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Junge  Griechin  am  Brunnen.     1865—70. 

0,55x0,37.     (Moreau^Nelaton   1574.) 

Sammlung  Michel  Levy. 


141 


Die  Lesende.      lM-»6. 
0,73x0.40.     (Moreau.Nelaton   1554.) 
Gehörte  bis  1S90  Sedelmeyer,  Paris. 


143 


Die  Muse.     Gegen  1865. 

0,46x0,35.     (Moreau.Nelaton  1388.) 

Sammlung  Michel^Levy. 

Photo  Durand^Ruel,  Paris. 


145 


Junges  Mädchen.     1868-70. 

0.85  >^  0,55.     (Moreau.Nelaton  1995.) 

Photo  DurandsRuel,  Paris. 


147 


Im  Atelier  Corots.     1870. 

0,63x0,48.     (Moreau.Nelaton  1561.) 

Museum  in  Lyon. 


149 


Griechisches  junges  Mädchen.     1 868—70. 

0,52x0,40.     (Moreau.Nelaton  1569.) 

Photo  DurandsRuel,  Paris. 


151 


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Italienerin.     1870. 

0,81x0,65.     (Moreau.Nelaton  2130.) 

Photo  DurandsRuel,  Paris. 


153 


Träumerei.     1869-70. 

0,81x0,65.     (Moreau.Nelaton  1565.) 

Sammlung  v.  Nemes,  Budapest. 

Photo  Durand'Ruel.  Paris. 


155 


ArleuxsdusNord.  —  Le  bord  des  Clairs.     1871. 

0,31,5x0,45.     (Moreau.Nelaton  2027.) 

Photo  DurandsRuel,  Paris. 


Vermeer  —  Chardin  —  Corot 

Wir  vermochten  mit  dem  Rembrandthaften  der  späteren 
Art  Corots  nur  wenige  Seiten  seines  Werkes  anzudeuten.  Aber 
in  Rembrandts  Nähe  gibt  es  einen  Künstler,  der  seine  Bedeutung 
neben  dem  Schöpfer  der  Tuchmacher  aus  denselben  Gründen 
gewinnt,  die  uns  erlauben,  Corot  mit  ihm  in  Parallele  zu  bringen: 
Vermeer.  Und  dieser  Vergleich  läßt  uns  wesentliche  Eigen= 
Schäften  Corots  tiefer  erkennen. 

Sehr  selten  dürfte  man  in  zwei  Künstlern  so  verschiedener 
Rassen  und  Zeiten  gleich  intime  Berührungspunkte  finden.  Wir 
wissen  sehr  wenig  von  Vermeer,  und  vor  fünfzig  Jahren  war 
er  noch  so  gut  wie  ganz  unbekannt.  Bis  zum  gewissen  Grade 
verdankt  er  der  Landschafterschule  von  1830  seine  Wiederent* 
deckung.      Burger ^^Thoree,   ihr  beredter   Verteidiger,    stellte   die 


157 


Persönlichkeit  des  Delfter  Meisters  fest,  die  sich  bis  dahin  im 
Schatten  unendHch  geringerer  Zeitgenossen  verborgen  hatte.  Als 
Autor  seiner  Kostbarkeiten  galt  u.  a.  Pieter  de  Hooch,  und  das 
dünkt  uns  heute,  als  wollte  man  Corot  mit  Fantin  Latour  ver^ 
wechseln.  Erklärlich  wird  es  durch  den  Reichtum  der  Entwick^ 
lung  Vermeers,  die  selbst  in  den  einigen  dreißig  Bildern,  die 
bis  heute  als  sein  Eigentum  erkannt  sind,  merkwürdig  viele 
Seiten  zeigt  und  die  bequeme  Erkenntnis  des  „Genre",  das  sich 
dazumal  immer  auf  den  Inhalt  der  Genrebildchen  beschränkte, 
nicht  erleichtert.  Uns  erscheint  er  gerade  auf  Grund  seiner 
Entwicklung  als  eine  der  bestimmtesten  Persönlichkeiten  des 
17.  Jahrhunderts.  Wir  glauben  in  seinen  Bildern  seinen  ge^ 
heimsten  Regungen  nahezukommen,  so  unverhüllt  zeigt  sich  die 
Art,  so  auffallend  unterscheidet  sie  sich  von  den  Zeitgenossen. 
Dafür  finden  wir  in  dieser  Persönlichkeit  frappierende  Ähnlich* 
keiten  mit  manchen  modernen  Künstlern,  nicht  allein  mit  Corot. 
Corot  aber  nähert  sich  ihm  in  seinen  seltensten  Eigenschaften. 
Schon  der  Landschafter  Vermeer  bewegt  sich  auf  entfernt 
verwandten  Pfaden  wie  Corot  in  gewissen  Zeiten.  Die  Häuser* 
Fassade  bei  Six  und  die  großartige  Kanallandschaft  der  Haager 
Galerie  verraten  eine  Anschauung,  die  von  der  des  Koloristen 
Corot  durch  keine  Abgründe  getrennt  ist.  Wohl  scheint  Vermeer 
präziser.  Seine  blitzenden  Punkte  sind  sauberer  gesät,  die  Kon* 
traste  liegen  wie  die  Häuser  seiner  Stadtviertel  zusammen,  der 
Pinsel  wogt  nicht  auf  einmal  über  die  ganze  Bildfläche,  sondern 
teilt  sie  akkurat  ein.  Aber  innerhalb  dieser  mit  vielen  Lands* 
leuten  gemeinsamen  Sorgfalt,  die  mehr  Gemeingut  der  ganzen 
Schule  ist,  glauben  wir  ein  ebenso  kindliches,  sich  seine  Welt 
im  stillen  zurecht  zimmerndes  Temperament  zu  finden.  Es  taucht 
nicht  wie  Rembrandt  in  alle  Tiefen  unter,  wird  nicht  groß  durch 
die  letzte  Konsequenz  eines  gewaltigen  Dramas,  sondern  schmückt 
sich  mit  den  Nuancen  einer  in  leisen  Windungen  regsamen  Seele 
und  zwingt  uns  mit  der  Zartheit  seiner  Diction  zur  Bewunderung. 
Das  Zierliche  verehren  wir  in  Vermeer.  Er  war  einer  der  vor* 
nehmsten  Maler  seiner  Zeit.  Seine  Feinfühligkeit  für  unver* 
brauchte  Wirkungen  delikatester  Art  und  seine  Erfindungsgabe 
schlössen  jeden  Manierismus  aus.  Aber  auch  das  lieben  wir  in 
Vermeer,  daß  die  Weisheit  ihn  nicht  anspruchsvoll  machte,  daß 

158 


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Die  Mühle  von  Plangues.     Mai  1871. 

0,27x0,41.     (Moreau.Nelaton  2005.) 

Sammlung  P.  Tesse. 

Photo    Durand?Ruel,  Paris. 


er  die  noch  heute  kaum  im  ganzen  Umfang  gewürdigte  Fähige 
keit,  der  Kunst  neue  Wirkungen  zu  erschließen,  spielend,  fast 
könnte  man  sagen,  tänzelnd  vortrug,  mit  einer  jedes  Untere* 
streichen  verachtenden  Eleganz,  mit  dem  naiven  Sinn  des  Dichters. 
Und  hier  kommen  wir  der  Parallele  schon  näher.  Auch  im 
Experimentalen  der  gestaltenden  Mittel  finden  wir  viele  Beruh? 
rungen.  Freilich  darf  man  diese  Momente,  soweit  sie  den 
Landschafter  Vermeer  angehen,  nicht  überschätzen.  Die  kleinen 
Persönchen  in  den  Fluren  der  Häuser  bei  Six  oder  die  schwarz* 
weiß  leuchtenden  Leute  auf  dem  lachsfarbenen  Ufer  des  Delfter 
Kanals  haben  nicht  nur  bis  in  die  Bilder  Corots  ihre  Unsterb? 
lichkeit  bewährt.  Die  ganze  moderne  Malerei,  bei  Constable 
angefangen,  erblickt  im  Impressionismus  Vermeers  den  V^orläufer, 
und  Signac  hatte  unrecht,  die  Vorgeschichte  seiner  Gruppe  nicht 
bis  zu  diesem  bewußtesten  Farbenteiler  der  Alten  zu  verfolgen. 


159 


Viel  intimer  ist  die  Beziehung  zwischen  den  Frauenbildern 
beider  Maler,  zumal  wenn  wir  die  letzte  Zeit  Corots  in  Betracht 
ziehen.  Hier  kann  man  bis  in  Nuancen  eine  merkwürdige  Über;: 
einstimmung  ihrer  Anlagen  verfolgen.  Das  Mädchenprofil  des 
Palais  Arenberg  in  Brüssel  und  noch  mehr  der  glorreiche  Kopf 
der  Haager  Galerie  zeigen  dieselbe  ans  Mysteriöse  grenzende 
Kombination  einer  vollendeten  Plastik  mit  allen  Reizen  der 
Malerei.  Die  Reinheit  der  Modellierung  hat  kein  Holländer  je 
wieder  erreicht,  geschweige  übertroffen.  Was  Ingres  mit  dem 
Bleistift  malte,  die  gehauchte  rundliche  Fülle,  ist  hier  vollkommen 
erhalten,  und  dabei  spielen  in  dem  Hauch  berückende  Farben, 
und  die  Vermehrung  des  farbigen  Reizes  scheint  das  Immaterielle 
nur  noch  zarter  zu  machen.  Unser  Wissen  von  den  Eigene* 
Schäften  der  Rasse  erfährt  hier  eine  bedeutungsvolle  Erweiterung, 
denn  ich  wüßte  nicht,  was  uns  abhalten  könnte,  die  Profile 
Vermeers  im  wörtlichsten  Sinne  klassisch  zu  nennen,  ebenso 
klassisch  wie  das  200  Jahre  vorher  gemalte  Mädchenköpfchen 
des  Petrus  Christus  in  der  Berliner  Galerie,  eins  der  Ahnenbilder 
der  ganzen  Reihe.  Man  kann  das  Mädchen  Vermeers  so  gut 
zu  einer  jungen  Griechin  machen  wie  Corots  Modell.  Wie  bei 
der  Femme  ä  la  perle  nicht  etwa  der  zufällige  Schnitt  des  Ge^ 
siebtes,  den  das  Modell  trug,  entscheidet  —  das  Modell  hieß 
Bertha  Goldschmidt  und  war  also  germanischen  Ursprungs  — 
vielmehr  die  Modifikation  des  Künstlers,  so  liegt  selbstverständ^ 
lieh  auch  in  dem  jungen  Mädchen  im  Haag  und  in  Brüssel, 
oder  in  der  Spitzenklöpplerin  des  Louvre  der  Reiz  in  dem 
zweiten  Gesicht,  das  Vermeer  aus  seinem  Vorbilde  schuf.  Aber 
bei  beiden  bleibt  in  unendlich  wohlthuender  Weise  das  durchaus 
Volkstümliche  des  Gesichtes  erhalten.  Man  hat  nichts  weniger 
als  eine  hergerichtete  griechische  Statue  vor  sich,  sondern  eine 
Holländerin,  eine  Französin,  denen  man  sogar  ihren  bürgerlichen 
Kreis  nachweisen  könnte.  Bei  Vermeers  strengerer  Form  tritt 
das  vielleicht  im  ersten  Augenblick  nicht  mit  gleicher  Selbsts* 
Verständlichkeit  hervor,  wirkt  er  doch  beinahe  noch  ingresker 
als  Corot.  Aber  auch  er  bildet  mit  der  unverhüllten  natürlichen 
Herkunft  der  Figur  —  am  deutlichsten  in  der  Spitzenklöpplerin 
des  Louvre  —  das  Vorspiel  und  sichert  sich  damit  die  solide 
Grundlage  der  Wirkung.     Seine  Holländerin  ist  sicher  von  der 

160 


Hendrickje  Stoffels  weit  entfernt,  aber  darum  doch  ein  echt 
holländischer  Typ;  den  Knochenbau  des  Gesichtes  kann  man 
in  groben  Umrissen  noch  alle  Tage  auf  der  Straße  sehen.  Trotze 
dem  entströmt  dem  Oval  eine  höhere  Form,  die  uns  ebenso 
griechisch  anmutet  wie  Corots  Frauenfiguren.  Die  Einzelheit 
des  rein  Malerischen  ist  bei  der  anormalen  Craquelure  auf  den 
beiden  Bildern  Vermeers  im  Haag  und  in  Brüssel  nicht  mehr 
genau  zu  verfolgen.  Immerhin  wird  man  sich  wenigstens  vor 
dem  gutgehängten  Haager  Kopf  noch  der  Hauptsachen  bewußt. 
Die  Farbenwirkung  liegt  in  dem  wundervollen  Kontrast  der 
Lieblingsfarben  beider  Künstler,  gelb  und  blau,  und  der  gegen? 
seitigen  Durchsetzung  dieser  Farben,  so  daß  unreine  Mischungen 
vermieden  werden.  In  der  Jacke  ist  das  Gelb  des  Kopftuches 
verdunkelt  und  mit  blauen  Tönen  so  durchzogen,  daß  es  mehr 
nach  olive  spielt.  Im  Gesicht  schattiert  das  dunklere  Gelb  auf 
Rosa.  Dieses  Rosa  ist  in  den  Lippen  wunderbar  abgetönt  und 
nimmt  nach  dem  Innern  des  Mundes  zu.  Die  stärkere  Nuance 
liegt,  abgeschlossen  als  Flecken,  auf  der  helleren  und  wahrt 
dadurch  eine  deutlich  absetzende  Abstufung.  Die  Methode  ist 
vorsichtiger,  man  möchte  sagen,  appetitlicher  als  die  Corots, 
aber  im  Prinzip  sehr  ähnlich,  und  zwar  bis  in  die  Art  des  Auf? 
trags.  Die  Mischung  von  sehr  dünner  Malerei  mit  ökonomisch 
verteilten,  in  Relief  aufgetragenen  Partien  ist  für  beide  bezeich? 
nend.  Das  gehäufte  Weiß  im  Augapfel,  die  Art  wie  der  Ohrring 
gemacht  ist;  die  Sammlung  der  erhöhten  Farben  auf  matterem 
Ton,  so  daß  der  prickelnde  Punkt  den  Ton  krönt;  die  Erhöhung 
des  Gelbs  im  herunterhängenden  Teil  des  Kopftuchs  durch  den 
reliefartigen  Auftrag  der  helleren  Nuancen,  endlich  der  breite, 
weiße  Strich  als  Kragen:  alles  das  sind  Wirkungen,  deren  Art 
sich  in  vereinfachter  Form  auch  bei  Corot  findet.  Es  bleibt  die 
abgeschlossene,  relativ  weniger  beschattete  Form  Vermeers.  Aber 
man  braucht  nur  an  die  Wärme  seiner  Gesichter  in  anderen 
Bildern  zu  denken,  in  dem  Milchmädchen  bei  Six  oder  vor 
allem  in  der  Brief leserin  der  Dresdener  Galerie,  um  auch  in 
dieser  Übereinstimmung  eine  Bestätigung  der  Verwandtschaft 
zu  finden.  Denn  gerade  die  Art,  wie  Vermeer  in  seinen  warmen 
Gemälden  die  Gesichter  einhüllt,  ist  eine  seiner  meister? 
liebsten    Gaben.      Sie    unterscheidet    ihn    wieder    durchaus    von 

Meier^Graefe,    Corot.  H 

161 


Pieter  de  Hooch  und  Ter  Borch,  die  zuweilen  alles  zum  gleichen 
Zweck  aufbieten  und  selbst  in  ihren  glänzendsten  Werken  zu? 
rücktreten,  weil  sie  des  Guten  zu  viel  tun  und  die  Aufbietung 
merken  lassen.  Vermeer  verstand  zu  opfern  und  störte  nicht 
den  Gesamtton  des  Fleisches  durch  viele  Farben,  ließ  aber  das 
Fleisch  unter  dem  tanzenden  Pinsel  vibrieren.  Corot  machte  es 
nicht  anders  und  verstärkte  noch  in  der  Jeune  Grecque  das 
Porenöffnende  des  Pinsels,  wie  er  es  schon  viel  früher  in  der 
„Toilette"  gelernt  hatte. 

Alle  diese  Beziehungen  dürfen  nicht  so  wörtlich  genommen 
werden,  als  es  hier  der  Deutlichkeit  wegen  geschieht.  Wort? 
lieh  ist  nur  die  Übereinstimmung  vieler  Empfindungen  beider 
Künstler.  Bei  der  Betrachtung  der  Mittel  legt  die  Entwicklungs? 
geschichte  ihr  Veto  gegen  allzu  enge  Vergleiche  ein.  Man  kann 
die  Evolution  des  Manuellen  nicht  übersehen.  Die  Handschrift 
ist  von  Vermeer  bis  Corot  ausgeschriebener  geworden.  Corot 
scheidet  nichr  mehr  so  sauber  Ton  und  Kontrast,  läßt  sich 
mehr  gehen  und  eignet  sich  eine  notwendig  fragmentarische 
Form  an,  um  der  Schnelligkeit  seiner  Einfälle  folgen  zu  können. 
Aber  diese  verhältnismäßig  saloppe  Technik  geht  nichtsdesto? 
weniger  bis  zum  gewissen  Grade  auf  Vermeer  zurück.  Man 
kann  den  Werdegang  am  besten  dadurch  andeuten,  wenn  man 
sich  vorstellt,  daß  Corot  bei  gleichem  Format  alle  wesentlichen 
Träger  der  Wirkung  verstärkt  und  infolgedessen  auf  viele  anderen 
Faktoren  Vermeers  verzichtet  hat.  Wo  dieser  z.  B.  eine  kom? 
plizierte  Unterlage  schuf  und  die  wesentliche  Wirkung  erst  zu? 
letzt  wie  einen  Zaubermantel  über  die  Erscheinung  deckte,  der 
sowohl  durch  seine  Schönheit,  wie  durch  das,  was  er  durch? 
scheinen  läßt,  wirkt,  hält  sich  Corot  lediglich  an  das  letzte 
Resultat  und  sichert  dem  Einzelnen  von  vornherein  die  Wirkung, 
die  nachher  im  Ensemble  den  Ausschlag  gibt. 

In  dem  prachtvollen  Gemälde  der  National  Gallery  in 
London  könnte  man  ein  unmittelbares  Vorbild  der  Femme  ä  la 
perle  vermuten.  In  der  Pracht  der  Modellierung  geht  hier  Vermeer 
ähnlich  über  seine  Art  hinaus  wie  Corot  in  dem  genannten  Bilde. 
In  der  Stirnpartie,  die  bei  beiden  dem  Gesicht  den  typischen 
Schmuck  verleiht,  äußert  sich  eine  ganz  verwandte  Ornamentik. 
Man  möchte  sogar  die  glänzende  Erfindung  Corots,  seiner  Frau 

162 


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Hof  eines  Bauernhauses.     1873. 

0,45x0,55.     (Moreau.Nelaton  2176.) 

Photo  DurandsRucl,  Paris. 


167 


Der  Mönch.     1874. 

0,71x0,49.     (Moreau.Nelaton  2129.) 

Sammlung  Frau  Amsinck,  Hamburg. 

Photo  DurandsRuel,  Paris. 


169 


Die  verwundete  Eurydicc.     1868—70. 

0,60x0.46.     (Moreau^Nelaton   1999.) 

Photo  Durand^Ruel,  Paris. 


171 


eine  Perle  an  die  Stirne  zu  hängen  und  so  in  einem  winzigen 
Detail  etwas  durchaus  Symbolisches  von  der  ganzen  Form  zu 
melden,  Vermeer  gutschreiben  —  man  denke  an  die  eigentümliche 
Wirkung  seiner  Ohrringe  und  dergl.  Sehr  wahrscheinlich  hat 
Corot  das  Londoner  Bild,  das  zu  seiner  Zeit  bei  Bürger  hing, 
gesehen  und  eifrig  studiert. 

Doch  erschöpft  die  Vermutung  einer  vereinzelten  bewußten 
Anlehnung  nicht  die  seltene  Tiefe  der  Beziehungen.  Corot 
brachte  seinen  Anregern  immer  sehr  viel  Gepäck  mit,  war  zu 
reich,  um  sich  einseitig  hinzugeben,  und  die  letzten  Jahre 
würden  uns  kaum  als  Blüte  erscheinen,  wenn  in  ihnen  der  Grund* 
zug  seiner  Art  zurückträte.  Als  solchen  erkannten  wir  schon 
früh  die  Eigentümlichkeit  Corots,  die  Einflüsse  Hollands  durch 
ein  französisches  Medium  zu  empfangen.  Das  ist  auch  hier  der 
Fall.  Sicher  hat  er  mit  eigenen  Augen  Vermeer  gesehen,  und 
der  Delfter  Meister  mag  ihm  das  gewesen  sein,  was  für  die 
Maler  von  Barbizon  Hobbema  wurde;  aber  daneben  profitiert 
er  wiederum  von  der  Vorbereitung  des  Einflusses  durch  einen 
französischen  Meister  des  18.  Jahrhunderts. 

Nicht  alles,  was  Vermeer  den  Holländern  ist,  aber  einen 
guten  Teil  dieser  Bedeutung  messen  die  Franzosen  Chardin  zu, 
dem  Meister  der  Stilleben  und  Interieurs.  Auch  dieser  sah  sich 
die  Holländer  an  —  nicht  nur  die,  um  derentwillen  er  in  Frankst 
reich  eine  Zeitlang  als  vermeintlicher  Nachahmer  gefeiert  wurde 
—  und  setzte  sie  fort.  Corots  Beziehung  zu  einem  um  zwei* 
hundert  Jahre  vorher  lebenden  Meister  mußte  vorsichtig  unter* 
sucht  werden,  weil  sich  gewisse,  von  dem  Einzelnen  unabhängige 
Momente  der  Schöpfung  während  eines  so  langen  Zeitraums 
notwendig  stark  modifizieren  und  den  Vergleich  trüben.  Die 
hundert  Jahre  weniger  kommen  uns  bei  Chardin  zugute,  weil 
sie  eine  geringere  Veränderung  der  gemeinsamen  Schöpfungs* 
momente  umfassen  als  dieselbe  Spanne  zwischen  Chardin  und 
Corot.  Dehnt  man  die  Geschichte  bis  zu  einem  Petrus  Christus 
aus,  so  werden  die  zwei  Jahrhunderte  zwischen  Vermeer  und 
seinen  Ahnen  das  gleiche  bedeuten  wie  dieselbe  Zeit  zwischen 
dem  Delfter  Meister  und  seinem  Enkel.  Chardins  Abhängigkeit 
von  Holland  springt  denn  auch  ohne  weiteres  in  die  Augen, 
weil    die   Gegenstände    sich    mit   den   beliebtesten   Motiven    der 

173 


alten  Holländer  decken.  Tritt  man  der  Beziehung  näher,  so 
verflüchtigt  sich  der  Eindruck  allzunaher  Verwandtschaft,  soweit 
er  sich  nicht  auf  rein  stoffliche  Fragen  beruft.  Man  beginnt, 
nach  den  Holländern  zu  suchen,  die  sich  wirklich  mit  der  Eigene 
heit  Chardins  decken,  und  es  bleibt  zuletzt  auffallend  wenig  von 
der  verblüffenden  Ähnlichkeit  übrig.  Nur  von  den  allerbesten 
Zeugnissen  der  Stilleben^Maler  des  17.  Jahrhunderts  führt  der 
Weg  zu  den  Fruchtstücken  des  französischen  Meisters.  Kalfs 
hängende  Zitronenschale  im  Berliner  Museum  zeigt  eine  Station. 
Unter  den  sehr  ungleichen  Werken  Beyerens  sind  ein  paar  be* 
zeichnende  Bilder,  z.  B.  im  Haag  die  Schale  mit  den  Fischstücken, 
deren  Fleisch  durch  glänzend  weiße  Farbensplitter  auf  grauweißem 
Ton  entsteht.  Noch  deutlicher  ist  der  Hinweis  in  dem  schönsten 
Beyeren  mit  Hase,  Huhn  und  rötlichem  Gekröse,  der  vor  einigen 
Jahren  in  die  Haager  Galerie  gelangt  ist.  Hier  hebt  eine  in 
zartesten  Nuancen  vollkommene  Harmonie  die  Erscheinung  aus 
dem  Stofflichen  heraus.  An  solche  Dinge  denkt  man  bei  Chardin. 
Aber  soviel  er  offenbar  diesen  Vorgängern  verdankt,  er  ist  ent^* 
scheidend  größer.  Nicht  nur  weil  ihm  die  Gleichheit  der  Per^ 
fektion  natürlich  war  und  er  nie  den  Gefahren  des  Manierismus 
unterlag;  auch  seine  Art  als  solche  ist  bedeutender.  Er  beherrscht 
spielend,  was  jenen  Meistern  nur  in  sehr  seltenen  Werken  ge* 
lang,  und  erreicht  es  auf  gesicherterem  Wege.  Der  berühmte 
Hase  in  Stockholm  ist  einfacher  und  wirkt  fast  monumental 
neben  den  Holländern,  und  doch  sind  die  Elemente  der  Wirkung 
vervielfacht.  Der  winzige  Apfel  auf  dem  Hasenbild  wirkt  ganz 
allein  reicher  und  stärker  als  ein  volles  Gemälde  von  Kalf. 
Dagegen  nähert  sich  das  Niveau  Chardins  dem  Meister,  der 
auch  zuweilen  Stilleben  malte,  ohne  daß  man  ihn  mit  den  Stille 
lebenmalern  in  einem  Atem  nennen  dürfte,  dem  Vermeer  des 
lesenden  Mädchens  in  der  Dresdner  Galerie,  der  den  Vorder^ 
grund  dieses  Kleinods  mit  dem  Teller  mit  Früchten  schmückte 
in  einem  glühenden  Olive,  das  den  ganzen  Sinn  des  Bildes  ent*: 
hält.  Neben  dieser  berückenden  Farbenglut,  die  nicht  mit  Hilfe 
des  Kontrastes,  sondern  des  Auftrags  entsteht  und  auch  bei 
Chardin  bemerkt  wird,  finden  wir  noch  ein  anderes  gemeinsames 
Merkmal.  Nicht  der  monumentale  Ernst  des  Dresdner  Interieurs 
läßt  sich  mit  Chardin  vergleichen.    Vermeer  hat  aber  neben  der 

174 


Nymphe  und  Amor.     1870—73. 

0,71x0.54.     (Moreau::Nelaton  1998.) 

Photo  Durand.Ruel,  Paris. 


175 


Art  des  Dresdner  Bildes  und  des  Mädchens  in  der  pelzbesetzten 
Jacke  im  Berliner  Museum  etc.  einige  Interieurs  geschaffen,  in 
denen  sein  Ernst  nicht  auf  das  ganz  Abgeklärte  einer  mit  nichts 
zu  vergleichenden  Harmonie  der  Formen  gerichtet  war,  sondern 
die  zweite,  schon  oben  angedeutete  Eigenschaft  des  Künstlers  in 
den  Vordergrund  rückt.  Ich  meine  die  Bilder,  in  denen  seine 
Zierlichkeit  eine  mehr  den  Landschaften  verwandte  Darstellung 
der  Frau  vollbringt.  So  in  dem  prickelnden  Bildchen  im  Ryks^ 
museum,  der  Mandolinenspielerin  mit  der  unglaublich  lebendigen 
Dienerin,  oder  in  der  großen  „Allegorie"  im  Haag.  Hier  hand^ 
habt  Vermeer  seine  glänzende  Tonkunst  mehr  als  Dekorateur, 
schmückt  die  Hintergründe  damit  und  stellt  in  die  von  Tönen 
prunkenden  Gemächer  seine  Frauen  mit  der  Keckheit  eines 
Junkers.  Das  Barock  der  „Allegorie",  das  schon  die  Pose  ver* 
rät,  mit  der  die  Frau  den  Fuß  auf  den  Globus  setzt,  ist  Träger 
dieser  Verwandlung  der  Technik.  Der  Kontrast  schreckt  hier  und 
in  dem  Bilde  mit  den  beiden  Frauen  des  Ryksmuseums  nicht  vor 
gewissen  notwendigen  Härten  zurück,  und  wieder  finden  wir  hier 
wie  in  den  Landschaften  die  Wirkung  mit  den  blitzenden  Punkten. 
Der  Landschafter  sagt  mit  dieser  Technik  die  Canalettos  voraus, 
die  die  Art  eigentlich  nur  verallgemeinerten  und  vergröberten; 
der  Interieurmaler  deutet  auf  Chardin  und  wurde  von  diesem  in 
sublimer  Weise  fortgesetzt.  Auch  in  Chardins  intimen  Szenen 
des  Lebens  im  Hause  gelingt  der  Malerei  die  Weichheit  voll^ 
endeter  Abtönungen  und  gleichzeitig  die  Frische  des  Kontrastes. 
Nicht  so  sehr  seine  Koloristik  als  die  relative  Körnigkeit  seiner 
Malerei  —  während  sich  Chardins  meiste  Genossen  immer  mehr 
dem  flinken  dekorativen  Strich  ergaben  —  geht  auf  Vermeer  zurück. 

„Seine  Art,  zu  malen,  ist  sonderbar,"  schrieb  Bachaumont 
von  Chardin.  ,,Er  stellt  eine  Farbe  neben  die  andere,  fast  ohne 
sie  zu  mischen,  so  daß  sein  Werk  ein  wenig  dem  Mosaik  oder 
eingelegter  Arbeit  gleicht,  wie  die  Nadelstickerei,  die  man  ,point 
carre*  nennt."  Und  Gaston  Schefer,  der  diese  zeitgenössische 
Kritik  zitiert,  fügt  hinzu :  „Chardin  war  also  eine  Art  Pointillist. 
Von  nahem  sind  seine  Dinge  nur  angedeutet.  Sobald  man  weiter 
zurücktritt,  erhellt  sich,  verdeutlicht  sich  alles  und  fließt  in 
wunderbarer  Harmonie  zusammen."^) 

^)  Les  grands  artistes.     Chardin  (Paris,  Laurens,  o.  D.). 

Meier^Graefe,  Corot.  12 

177 


Das  gab  zu  Zeiten  Diderots  einem  Maler  die  Merkwürdigkeit, 
nicht  mehr  in  den  Tagen  des  alten  Corot,  als  dieser  „Pointillismus" 
sich  schon  viele  Arten  erschlossen  hatte.  Und  hätte  Diderots 
Zeit  nicht  über  dem  damals  lächerlich  überschätzten  Teniers  einen 
Vermeer  vergessen,  so  hätte  man  in  dem  Delfter  Meister  den^^ 
selben  Pointillismus  schon  hundert  Jahre  vorher  gefunden.  Immer 
verrät  Chardin  das  18.  Jahrhundert,  aber  der  Holländer  dämpft 
und  vertieft  seine  Art.  Schon  daß  er  in  seinen  Interieurs  die 
Szene  reduzierte  und  dafür  intensiver  ausstattete,  daß  er  seine 
Frauen  bürgerlich  werden  ließ,  nicht  ohne  sie  um  so  reizender 
zu  machen,  ist  holländischer  Geist.  Das  Leben  in  diesen  kost* 
liehen  Puppenstuben  ist  zierlicher  als  in  den  holländischen 
Zimmern,  lichter,  heiterer,  graziöser,  aber  es  liegt  ein  Hauch  der* 
selben  Intensität  darüber,  die  uns  das  holländische  Interieur 
teuer  macht.  Der  Holländer  wiederum  mischt  die  Milde  einer 
höchst  abgeklärten  Anschauung  mit  der  Lust  an  kecken  Akzenten. 
In  Chardin  erinnert  sich  das  Dix*huitieme  an  die  ruhmreiche 
Vorzeit.  In  Vermeer  verjüngt  sich  eine  von  allen  Reizen  des 
17.  Jahrhunderts  getragene  Schönheit  durch  den  Zusammenhang 
mit  der  folgenden  Epoche. 

Corot  hat  von  beiden.  Er  erfüllt,  was  alle  Meister  des 
19.  Jahrhunderts  erfüllen:  bildet  Glied  einer  bis  zu  ihm  ge* 
drungenen  Entwickelung  und  greift  gleichzeitig  auf  das  17.  Jahr* 
hundert  zurück,  ganz  wie  Delacroix,  Courbet,  Manet  und  viele 
andere.  Aber  von  ihm  wurde  auch  das  18.  Jahrhundert  nicht 
so  stiefmütterlich  behandelt  wie  von  den  anderen,  die  sich  nur 
im  Vorübergehen  auf  die  Watteau  und  Fragonard  besannen. 
Chardin  und  Vermeer  zusammengetan,  geben  sicher  noch  nicht 
Corot,  so  einfach  liegen  die  Exempel  nicht.  Aber  der  Geist, 
der  beide  ganz  erfaßt  hat,  wird  Corot  wie  eine  fast  notwendige 
Ergänzung  betrachten. 

Jedesmal,  wenn  ich  im  Louvre  die  Pastelle  mit  dem  famosen 
alten  Kopf  mit  der  Hornbrille  sehe,  die  Selbstporträts  des  fast 
achtzigjärigen  Chardin,  muß  ich  an  den  Pere  Corot  denken. 
Es  ist  derselbe  Typ,  dieselbe  unverwüstliche  Behaglichkeit,  fast 
dasselbe  kluge  Bourgeoisgesicht.  Sie  scheinen,  obwohl  durch 
ein  Jahrhundert  getrennt,  näher  zusammen  zu  gehören,  als  Corot 
mit  der  ihm  folgenden  Generation.    Näher  auch  im  Grunde,  als 

178 


Corot  mit  Vermeer.  Freilich  scheinen  viele  Einzelfiguren  Corots 
dem  Ernst  der  bedeutendsten  Frauen  Vermeers  verwandter  als 
den  kleinen  Bürgerinnen  Chardins.  Aber  die  Nuance,  die  sich 
der  Parallele  Vermeer— Corot  entgegenstellt,  ist  just  das,  was  der 
Meister  von  Ville  d'Avray  mit  Chardin  teilt:  das  Leichte,  Flüssige 
der  Gestaltung,  fast  möchte  man  sagen  der  Lebensart.  Corot 
verhält  sich  zu  dem  Landsmann  umgekehrt  als  dieser  zu  Vermeer. 
Er  entfernte  aus  dem  Interieur  alles  Puppenstubenhafte  —  die 
Puppen  blieben  in  dem  silbergrauen  Walde  —  vergrößerte  den 
Maßstab,  sah  viel  mehr  auf  den  Menschen  als  die  Umgebung, 
ja  häufte  in  seinen  Figuren  all  den  Reichtum,  den  Chardin  durch 
die  losen  Details  seiner  köstlichen  Welt  andeutete.  Wie  ernst 
wir  geworden  sind,  kann  man  an  dem  Alter  des  Heitersten 
unserer  Zeit  ermessen,  wenn  wir  ihn  mit  dem  Ernstesten  des 
Dix^huitieme  vergleichen.  Auch  Corot  sammelt  sich  im  Schatten 
Rembrandts. 

Und  doch  trügt  nicht  die  Ähnlichkeit  der  beiden  Porträts. 
Auch  in  'dem  alten  Corot  lebt  noch  ein  letzter  Schimmer  der 
goldenen  Zeit,  die  nichts  von  der  Kehrseite  des  Lebens  wissen 
wollte.  Was  seine  letzten  Gestalten  ernster  erscheinen  macht 
als  die  früheren,  ist  in  demselben  Maße  die  Bereicherung  der 
Wirkungen  des  Künstlers,  neben  der  man  andere  Momente  ver* 
gißt,  als  der  natürliche  Hang  des  reifen  Menschen,  seine  Be^ 
schaulichkeit  zu  vertiefen. 

So  schließt  sich  der  Ring.  Alle  drei  trachteten  nach  der^ 
selben  schweigsamen  Schönheit.  Jeder  ist  in  seinem  Jahrhundert 
und  wächst  gleichzeitig  darüber  hinaus,  und  in  diesem  Stück, 
mit  dem  er  nicht  zu  seiner  Zeit,  sondern  zur  Ewigkeit  gehört, 
berührt  er  sich  mit  den  anderen.  So  gehören  die  Rhapsodie  in 
Olive  der  Dresdener  Galerie,  das  „Benedicite"  Chardins  und 
Corots  letzte  Frau  vor  der  Staffelei  zusammen.  Noch  näher 
kommen  sie  sich,  wenn  man  von  einzelnen  Bildern  absieht,  wenn 
man  sich  nur  an  das  hält,  was  einem  von  jedem  der  drei  als 
Form  im  weitesten  Sinne,  als  individuelles  Organ,  als  Seele, 
vorschwebt. 

Denn  die  Ähnlichkeit  ist  ja  keine  wörtliche,  sonst  wäre  einer 
von  ihnen  entbehrlich.  Es  sind  Verwandte,  wenn  man  so  weit 
von  ihnen  zurücktritt,  daß  Länder  und  Zeiten,  in  denen  sie  lebten, 

12* 
179 


wie  begrenzte  Massen  erscheinen  und  ihre  Silhouetten  um  so 
deutlicher  sehen  lassen,  alles  Nebensächlichen  entblößt,  das 
der  vergängliche  Tag  in  sie  hinein  dichtete.  Zu  dem  Neben=: 
sächlichen  rechne  ich  auch  die  zufälligen  Beziehungen  zwischen 
den  Malmethoden  verschiedener  Künstler.  Wer  aber  die  Kunst 
im  ganzen  Umfang  begreift,  wird  finden,  daß  nicht  der  Zufall 
solche  Beziehungen  bestimmt,  sobald  es  sich  um  große  Meister 
handelt.  Vertieft  man  sich  in  die  drei  Künstler  aus  drei  kunst^ 
reichen  Zeiten,  die  wir  hier  nebeneinanderstellten,  so  ergibt  sich 
immer  mehr,  daß  die  Art  ihrer  Malerei  der  Art  ihres  Menschen? 
tums  aufs  innigste  entspricht,  und  daß  der  Versuch,  ihre  Technik 
als  eine  vom  Menschen  getrennte  Eigentümlichkeit  zu  fassen, 
ihr  Wesen  nicht  erschöpft.  Und  daran  merkt  man,  daß  die  Be? 
Ziehungen  zwischen  der  Malerei  der  drei  hier  verglichenen 
Meister  nicht  auf  Zufall  beruhen,  sondern  auf  dem  Umstand, 
daß  drei  Menschen,  die  einander  ähnlich  waren  —  soweit  solche 
Ähnlichkeit  bei  der  Verschiedenheit  der  Zeiten  denkbar  ist  — , 
sich  entschlossen,  ihre  Kunst  getreu  ihrer  Natur  zu  handhaben. 
Wenn  die  Zukunft  uns  einst  aus  größerer  Entfernung  mißt, 
wird  sie  vielleicht  Grund  zu  haben  glauben,  die  unbegrenzte 
Schätzung,  die  unsere  Zeit  manchen  Künstlern  entgegenbringt, 
zu  kontrollieren.  Sie  wird  die  treffen,  deren  Beziehung  zu 
anderen  zufällig  erscheint.  Kaum  dürfte  je  eine  Zeit  an  dem 
Corot  rütteln,  der  sich  mit  dem  Geist  Chardins  und  Vermeers 
vermählte.  Solange  man  einen  der  drei  schätzt,  wird  man  die 
anderen  nicht  missen  wollen. 


180 


La  Dame  Bleue.     1874. 

0,80x0,50.     (Moreau.Nelaton  2180.) 

Früher  Sammlung  Henri  Rouart,  Paris. 


181 


~-^^- 


Straußbindende  Kinder.     1871. 

0,64x0,48.     (Moreau.Nelaton  2436.) 

Sammlung  Dr.  Gebhardt,  Frankfurt  a,  M. 


182 


Corots  Stellung  in  der  Gegenwart 

Wir  bedürfen  nicht  der  Erkenntnis  all  dieser  versteckten 
Beziehungen,  um  Corot  zu  lieben.  Leichter  als  irgendeiner  der 
Großen  des  neunzehnten  Jahrhunderts  erschließt  er  sich  dem 
Freunde  der  Kunst.  Der  Laie,  der  vor  vielen  Zeitgenossen  wie 
vor  Rätseln  steht,  wird  hier  von  sanften  Schwingen  zum  Lobe 
des  Schönen  gelockt.  So  viel  ist  des  Alten,  Wohlvertrauten  in 
ihm,  so  natürlich  erscheint  uns  seine  Neuheit.  Corots  Empfindung 
liegt  in  allen  Bildern  so  unverhohlen  zutage,  daß  man  nur  selbst 
ein  Empfindender  zu  sein  braucht,  um  zum  Bewunderer  zu  werden. 

Die  Konsequenz  seiner  letzten  und  stärksten  Periode  machte 
nur  vor  dem  Tode  halt.  Bis  zu  den  allerspätesten  Bildern  ver^ 
größert  sich  seine  Koloristik.  Die  Dame  bleue  ^)  bei  Henri 
Rouart  —  ein  wahres  Geschmeide  in  Blau,  dessen  Reichtum 
mehr  auf  dem  reichen  Schliff  der  vehementen  Pinselstriche  als 
auf  der  Verschiedenheit  der  Töne  beruht  —  und  der  Cello  spielende 
Mönch  ■)  bei  Frau  Amsinck  in  Hamburg,  beide  aus  dem  Jahre 
1874,  als  Corot  den  achtzig  nahe  war,  zeigen  dieselbe  Kühnheit 
des  Koloristen.  Was  Heilbut  von  dem  Mönch  sagt,  daß  diese 
breite  Malerei  keine  Spur  von  zitterndem  Verweilen  bei  einem 
novellistischen  Thema  aufweise'^),  gilt  von  allen  Bildern  des  Greises. 

Nicht  die  breite  Malerei,  die  uns  heute  nahesteht,  sondern 
das  ganz  Menschliche  dieser  Kunst  läßt  mich  die  letzten  Jahre 
Corots  die  glücklichsten  nennen.  Er  ist  sich  immer  treu  gewesen, 
auch  wenn  er  spielte.  Hier  aber  erscheint  er  als  großer  Mensch, 
den  nicht  mehr  das  Spiel  reizt,  sondern  die  Tiefe,  der  bewußter 
als  je  alles  aufbietet,  um  die  verschwenderischen  Gaben  seines 
Genies  auf  die  Spitze  zu  treiben.  Jenseits  aller  Spekulation  und 
jedes  Manierismus.  Wenn  je  ein  Hauch  von  Nachgiebigkeit  in 
früheren  Jahren  das  Bild  trübte,  die  besten  Bilder  seiner  letzten 


0  L'oeuvre  de  Corot,  Nr.  2180.     S.  181  abgebildet. 

^)  L'cEuvre  de  Corot,  Nr.  2129. 

^)  In  dem  früher  zitierten  Heft  von  ,, Kunst  und  Künstler"  (Verlag  Bruno 
Cassirer,  Berlin),  III.,  3,  mit  gelungenen  Abbildungen  dieser  Art  Corots;  fast 
alle  aus  dem  letzten  Jahrzehnt. 

183 


Zeit  sind  Offenbarungen  eines  Menschen,  der  nur  darauf  be^ 
dacht  ist,  seinem  Schöpfer  Rechenschaft  abzulegen. 

Sieht  man  von  den  vielen  Dingen  ab,  die  sich  in  allen 
Perioden  finden  und  nur  modifizierte  Wiederholungen  früherer 
Erfindungen  sind,  hält  man  sich  lediglich  an  das  jeweilig  Neue 
seiner  Produktion,  so  ist  die  konsequente  Annäherung  an  typische 
Ziele  der  modernen  Malerei  unverkennbar.  Und  doch  wird  man 
Corot  nie  ganz  zu  den  Modernen  rechnen.  Die  Form  seiner 
Schöpfung  hat  nichts  Zwingendes  mit  den  Impressionisten  zu  tun. 
Er  ging  ein  Stück  ihres  Weges,  aber  hielt  immer  die  Augen  auf 
Dinge  gerichtet,   die   den   anderen  längst  entschwunden   waren. 

Corot  träumte.  Das  Temperament  der  großen  Eroberer, 
die  mit  ihren  Bildern  die  Welt  bestürmten,  war  ihm  nicht  ge^ 
geben.  Daher  mag  es  kommen,  daß  sich  sein  Einfluß  auf  einen 
kleinen  Kreis  beschränkte.  Der  Nutzen  ist  weniger  sichtbar,  als 
das,  was  Delacroix  und  Ingres  den  Nachfolgern  hinterließen. 
Corot  war  nicht  eindeutig  genug  und  seiner  Fülle  zu  unbewußt, 
um  zu  einer  Schule  im  engeren  Sinne  zu  führen.  Was  kleine 
Leute  wie  Lepine  in  seinem  Geiste  weiterbauten,  kommt  kaum 
in  Betracht.  Wohl  aber  entdeckt  man  versteckte  Anklänge  in 
den  bedeutendsten  Künstlern  der  Epoche.  Nicht  in  Manet;  er 
wußte  sich  unverstanden  von  Corot  und  stand  ihm  fremd  gegens^ 
über,  fast  wie  der  entgegengesetzte  Pol.  Die  anderen  Impressio^s 
nisten  aber  verdankten  dem  verschwiegenen  Meister  nicht  wenig. 
Seine  warme  Tonkunst  gab  ihrem  Debüt  eine  wertvolle  Stütze. 
Pissarro  ist  ihm  am  meisten  verpflichtet,  dann  Monet,  Sisley  und 
andere.  Die  ersten  Landschaften  der  neuen  Schule  haben  ihre 
eigentümliche  Milde  der  Lyrik  Corots  entnommen.  Während 
der  Eroberung  des  Lichtes  trat  die  Erinnerung  an  den  Maler 
der  Dämmerung  zurück.  Seitdem  man  anfängt,  mit  diesem  Siege 
gelassen  zu  rechnen,  wird  Corots  Geist  wieder  fruchtbar.  In 
Bonnard  lebt  etwas  von  dem  großen  Idylliker.  Während  Maurice 
Denis  die  Nachfolgerschaft  Ingres'  antritt,  zeigt  Bonnard  den 
höheren  Klassizismus,  mit  dem  er  den  Genossen  ebenso  sicher 
überwindet  wie  Corot  den  Maler  der  Odalisken.  Weniger 
klassisch  haben  die  Schotten  versucht,  aus  derselben  Quelle  zu 
schöpfen.  Ihr  Manierismus  machte  aus  den  Schwächen  des  Vors= 
bilds  eine  gefällige  Tugend. 

184 


A 1 1  c  r  s  b  i  1  d  n  i  s  von  D  a  ii  m  i  e  r. 

0,20x0,14. 

Sammlung  Viau,  Paris. 


185 


Von  deutschen  Zeitgenossen  hat  wohl  Waldmüller  als  erster 
Corots  Bedeutung  erkannt,  ohne  daß  es  möglich  wäre,  praktische 
Folgen  seiner  enthusiastischen  Verehrung  in  seinem  Werke  zu 
finden.  Dagegen  verrät  der  Frankfurter  Kreis  der  Burnitz,  Eysen, 
Victor  Müller  usw.  die  wohltätige  Anregung  des  Meisters.  Den 
frühen  Böcklin  hat  Corot  von  der  Trockenheit  Schirmers  befreit. 
Die  Anregung  hat  leider  nicht  gehalten. 

Unbegrenzte  Verehrung  bringt  ihm  das  französische  Publikum 
entgegen.  Seine  Popularität  hat  selbst  Millet  in  den  Schatten  gQ* 
drängt.  Die  materielle  Schätzung  seiner  Bilder  übersteigt  jedes 
vernünftige  Maß.  Er  ist  der  einzige  Landschafter  der  berühmten 
Generation,  dessen  Preise  noch  heute  im  Steigen  begriffen  sind. 
Gemälde,  für  die  Corot  in  der  letzten  Zeit  1000  Fr.  ansetzte, 
werden  heute  mit  dem  hundertfachen  Betrage  gezahlt.  Die 
Schätzung  stützt  sich  nicht  allein  auf  die  wandelbare  Liebe  der 
Amateure,  sondern  trägt  einem  legitimeren  Instinkte  Rechnung. 
Corot  war  einer  der  Seltensten.  Nicht  nur  der  Schöpfer  glor* 
reicher  Werke  ging  mit  ihm  zu  Grabe,  die  ganze  Art  einer  Kunst 
verschwand.  Er  steht  hinter  uns,  wir  haben  von  der  Zukunft 
seinesgleichen  nicht  mehr  zu  erwarten.  Denn  bei  all  seiner  un^ 
übersehbaren  Vielseitigkeit,  trotz  der  Fülle  von  Beziehungen  zu 
den  erlauchtesten  Geistern,  kann  nicht  übersehen  werden,  daß 
Corot  seine  Zeit  nicht  erschöpfte.  Er  wurzelt  nicht  in  der  Gegen== 
wart  wie  Constable  oder  Menzel,  hat  nicht  die  erstaunliche  Be^ 
gabung  für  eine  neue  Synthese,  wie  sie  Courbet  brachte,  ist 
nicht  so  notwendig  wie  Manet.  Die  Kühnheit  eines  Cezanne  war 
ihm  nicht  gegeben.  Wie  ein  freundliches,  wohlgeschütztes  Ge^^ 
Stade,  das  die  Wellen  benetzen,  nicht  umbrausen,  schuf  er  seine 
Kunst.  Unsere  flammende  Leidenschaft  bleibt  leichter  an  den 
großen  Einsamen  hangen,  die  unsere  eigene  Einsamkeit  in  ge^ 
waltigen  Monumenten  spiegeln,  felsigen  Inseln  gleich  im  Kampfe 
mit  feindlichen  Elementen.  Wenn  wir  uns  von  diesen  be^ 
geisterter  fühlen,  weil  sie  sich  aus  Tiefen  erheben,  in  die  wir  zu 
versinken  drohen,  weil  sie  zur  Gestaltung  bringen,  wonach 
unsere  Seele  bangt:  wer  möchte  nicht,  erschreckt  von  all  den 
neuen  ringenden  Kräften,  zuweilen  in  die  traulichen  Gefilde 
flüchten,  die  Corot  dem  Reste  unserer  Zärtlichkeit  geschenkt  hat? 


187 


Verzeichnis  der  Abbildungen 


Seite 

Titelbild:     Corot,     Photographie 

nach  dem  Leben 2 

Blick  auf  das  Colosseum  in  Rom  7 
Junger  Bauer  aus  der  römischen 

Campagna 16 

Blick   auf  das   Forum  Romanum  19 

Hagar  in  der  Wüste 23 

Selbstporträt  mit  der  Palette    .     .  25 

Junge  sitzende  Frau 29 

Reiter  in  italienischer  Landschaft  32 

Heiliger  Hieronymus       ....  33 

Jugendbildnis  Daumiers      ...  35 

Bacchantin 36 

Eine  Braut 39 

Die  Toilette 43 

Nymphe,  Amor  rufend  ....  46 

Frau  mit  Buch.     Handzeichnung  49 

Die  Bacchantin  mit  dem  Panther  51 

Die  Flucht  aus  Sodom   ....  54 

Die  Badenden  von  Bellinzona    .  57 

Homer  und  die   Hirten  ....  59 

Macbeth  und  die  Hexen     ...  63 

Der  heilige  Sebastian      ....  65 

Italienische  Stadt 66 

Unter  Apfelbäumen 67 

Rouen 71 

Interieur  aus  Mas^Billier      ...  73 

Der  Hafen  von  Rochelle  ...  75 
Tivoli.   —    Die   Gärten   der  Villa 

d'Este 79 

Altes  Landhaus  in  der  Nähe  von 

Semur 81 

Morgen  auf  dem  Lande  ...  82 
Vor  dem  Dorfe  (Umgebung  von 

Beauvais) 85 

Schloßeingang 88 

Die  Stralk  von  Sevres   ....  89 

Bretonische  Bäuerin 91 

La  petite  Liseuse 93 

Büßende  Magdalena 94 

Junge  Algerierin 96 


Seite 

Landschaft,  186+ 97 

Sitzende     Frau     mit     aufgelösten 

Haaren 101 

Bäuerin  an  der  Quelle   ....  105 

Träumerei,   1860-65 106 

Träumerei,   1865-70 107 

Mutter  und  Kind 109 

Der  Kirchweg  in  Marissel  .     .     .111 

Schloß  Thierry 113 

Souvenir  de  Ville  d'Avray  .  .115 
Orpheus  begrüßt  das  Licht     .     .118 

Der  Fischer 119 

Femme  ä  la  perle 121 

Lesender  Mönch 125 

Bacchantin  am  Meer 127 

Castel  Gandolfo 129 

Mantes 130 

Die  Badenden 131 

Die  Höhen  von  Sevres  .     .     .     .137 

Der  Windstoß 135 

Dame  an  der  Staffelei  .  .  .  .133 
Porträt  einer  Dame  als  Italienerin  135 
Junge  Griechin  am  Brunnen  .     .  141 

Die  Lesende 143 

Die  Muse  .........  145 

Junges  Mädchen 147 

Im  Atelier  Corots 149 

Griechisches  junges  Mädchen      .   151 

Italienerin 153 

Träumerei,  1869-70 155 

Arleux^du^Nord 157 

Die  Mühle  von  Plangues  .  .  .159 
Ansicht  von  Ville  d'Avray  .  .  163 
Die  Straße  von  Arras  ....  165 
Hof  eines  Bauernhauses      .     .     .   167 

Der  Mönch 169 

Die  verwundete  Eurydice    .     .     .171 

Nymphe  und  Amor 175 

La  Dame  bleue 181 

Straußbindende  Kinder  ....  182 
Altersbildnis  von  Daumier      .     .  185 


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